Heute wird doch gar nicht mehr umgeschult, oder? Doch, an Waldorfschulen findet das teils auch heute noch statt. Das liegt an den anthroposophischen Ideen rund um (Links-)Händigkeit und Umschulung. Diese Ideen wurden von Rudolf Steiner verbreitet und spielen bis heute eine Rolle in der Waldorfpädagogik. Um zu verstehen wieso trotz der Einstufung als Körperverletzung auch heute noch Umschulungen durchgeführt werden, ist es notwendig, diese Ideen zu kennen.
Im folgenden betrachte ich die wichtigsten dieser Ideen.
Schicksalsaspekt: Linkshändigkeit als karmische Schwäche
In der Anthroposophie wird von Reinkarnation, also der Wiedergeburt ausgegangen. Rudolf Steiner hat diverse Verbindungen zwischen Problemen, Schwächen, Stärken, Erkrankungen und Behinderungen mit dem Verhalten im vorherigen Leben hergestellt. Daraus entstünden unsere Aufgaben und Herausforderungen für dieses Leben. Und wer diese Aufgabe nicht löst, nimmt sie ins nächste Leben mit.
Diese Idee bezog er auch auf die Linkshändigkeit. Sie sei eine karmische Schwäche die ausgeglichen werden müsse. Für Steiner war eine Linkshändigkeit die Folgeerscheinung einer Überlastung (physisch, psychisch, geistig, seelisch) im vorherigen Leben. Dadurch sei die rechte Seite geschwächt und die linke Seite müsse unterstützend zu Hilfe eilen. Für ihn war also die Linkshändigkeit keine tatsächliche Dominanz der linken Hand, sondern lediglich eine scheinbare Stärke aufgrund der Schwäche der rechten Seite.
„Das Phänomen der Linkshändigkeit ist ein ausgesprochen karmisches Phänomen, und ist in Bezug auf das Karma ein Phänomen der karmischen Schwäche. Wenn ich ein Beispiel nehmen soll: Ein Mensch, der im vorhergehenden Leben sich überarbeitet hat, so daß er sich übernommen hat, nicht nur physisch oder intellektuell in der Arbeit, sondern überhaupt geistig oder seelisch oder im Gemüt, und der dann dadurch in einem darauffolgenden Leben mit einer starken Schwäche kommt […]. Dadurch wird das, was sich sonst stark ausbildet, das wird schwach, und dafür werden als Ersatz das linke Bein und die linke Hand besonders engagiert und zur Hilfe genommen.“ Rudolf Steiner GA 300c
Diese karmische Schwäche könne ausgeglichen werden, indem die rechte Seite gestärkt wird. Also eine Umschulung auf die rechte Hand stattfindet. Menschen die ihrer Linkshändigkeit nachgeben, würden die karmische Schwäche nicht ausgleichen und sie somit mit ins nächste Leben tragen. Aufgabe der (Waldorf-)Erziehung sei es daher, linkshändige Kinder auf rechts umzuschulen.
„Aber das einzig wünschenswerte ist, solche Linkshänder in Rechtshänder umzuwandeln; und das wird im wesentlichen ganz besonders mit Bezug auf das Schreiben, das zeichnende Schreiben meistens gelingen.“ Rudolf Steiner GA 309
Er sagte also, dass Linkshändigkeit etwas Schlechtes, Falsches sei, das verändert werden müsse. Und nur wenn der Versuch in der Praxis scheitere, müsse man „natürlich mit der Linkshändigkeit fortarbeiten“. (GA 309).
Auch Steiner wusste damals übrigens schon um das Risiko, dass durch die Umschulung Probleme und Störungen entstehen können. Seine Lösung: das Kind darauf aufmerksam machen.
„[…]da gewisse Ideenflüchtigkeiten eintreten; daß das Kind auch unter Umständen wegen zu schnellen Denkens sich fortwährend im Denken ins Stolpern bringt, und dergleichen. Das muß man sorgfältig beachten und dann gerade die Kinder aufmerksam machen auf solche Dinge[…]“ Rudolf Steiner GA 309
Diese Ideen von Steiner sind in der Waldorfpädagogik bis heute erhalten geblieben. So schreibt Michaela Glöckler auch in der 2025 Ausgabe der Kindersprechstunde über den Schicksalsaspekt.
„Rudolf Steiner hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Linkshändigkeit als Folgezustand eines früheren Erdenlebens ergeben kann, in dem der betreffende Mensch sich körperlich und seelisch stark verausgabt hat. Das kann im nächsten Erdenleben dazu führen, dass die rechte Körperseite weniger kräftig ausgebildet ist als die linke.“ Michaela Glöckler, Kindersprechstunde 2025 Seite 630
Neben dem BdFWS schreibt Glöckler mittlerweile, dass die Entscheidung für oder gegen die Umschulung individuell getroffen werden müsse. Sie schreibt am Ende des Abschnittes zur individuellen Entscheidung jedoch auch: „Eine Überlegung ist das Schreibenlernen mit der rechten Hand auf jeden Fall wert.“ (Seite 631)
Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) erwähnt den Schicksalsaspekt aktuell zwar nicht auf seiner Webseite. Jedoch werden Glöckler und ihre Bücher regelmäßig vom BdFWS empfohlen, sie tritt bei Veranstaltungen in verschiedenen Waldorfschulen auf und eine Distanzierung zu ihren oder Steiners Aussagen über den Schicksalsaspekt bei Linkshändigkeit konnte ich auch nirgends finden. Zudem taucht die Idee von Reinkarnation und Karma standardmäßig in der Waldorfpädagogik auf. Immerhin wird die Erziehungskunst (wie Steiner die Waldorfpädagogik genannt hat) allgemein als Inkarnationshilfe verstanden.
Unterschiedliche Qualitäten von links und rechts
In den verschiedenen Ausgaben der Kindersprechstunde in den letzten rund 40 Jahren schreibt Glöckler immer wieder über die angeblich unterschiedlichen Qualitäten von rechts und links. Sie führt dazu beispielhaft verschiedene Kulturen an und ordnet die Körperhälften den binären Geschlechtern männlich und weiblich zu. Sie stellt zudem eine Verbindung zur Anordnung der Organe her. Demnach seien die rechts liegenden Organe wie Leber und Lunge (diese wird aufgrund der unterschiedlichen Lungenflügel von ihr rechts eingeordnet) für die Außenbeziehungen zuständig. Die links liegenden Organe wie beispielsweise das Herz für die Innenwelt zuständig. Daraus begründet sie, dass die rechte Hand für die nach außen gerichtete Schreibtätigkeit zuständig sei und die linke Hand fürs Schreiben ungeeignet.
Zudem sei die rechte Hirnhälfte für bildbezogenes, ganzheitliches Denken zuständig. Dies würde nicht zusammenpassen mit dem Schreiben. Denn Schreiben hat mit dem Verstand und generell mit dem Denken zu tun und da würde die linke Hirnseite (und damit die rechte Hand) mit ihren logisch, abstrakt, analysierenden Qualitäten besser zu passen.
Auch Steiner hat schon gesagt, dass alle Tätigkeiten die mit dem Verstand zu tun haben, mit der rechten Hand durchgeführt werden sollten. Zeichnen mit links war daher für ihn vollkommen okay. Auch diese Idee ist also von Steiner bis in die heutige Zeit erhalten geblieben.
Willenskraft und Willenserziehung
Steiner hat das Wollen den Gliedmaßen und dem Tun zugeordnet (Dreigliederung des Menschen: Kopf = Denken, Brust/Körpermitte = Fühlen, Gliedmaßen = Wollen). So ist es nicht verwunderlich, dass eine Verbindung der Schreibtätigkeit mit dem Wollen bzw. der Willenskraft hergestellt wird. Insbesondere, da die Willenserziehung in der Waldorfpädagogik eine besonders wichtige Rolle spielt (was genau mit Willenskraft gemeint ist, ist dabei ein Thema für einen eigenen Artikel).
Das Schreibenlernen wird in der Waldorfpädagogik daher generell als eine Möglichkeit der Willenserziehung verstanden. Laut Glöckler gilt das insbesondere für das rechtshändige Schreiben bei Linkshänder*innen, da hier auf den Spontangebrauch der rechten Hand verzichtet werden muss, das Schreiben also noch bewusster stattfinden muss.
In meiner parallel erscheinenden allerersten Podcast Episode gehe ich näher darauf ein, inwiefern die angeblich gestärkte Willenskraft durch die Umschulung auftretende Probleme bessern können soll (und wieso das kein stichhaltiges Argument ist).
Echte Händigkeit und Händigkeit versus Seitigkeit
Der BdFWS schreibt, dass eine echte Seitigkeit nicht angetastet werden würde. Die Idee einer „echten“ Händigkeit und die Unterscheidung zwischen Händigkeit und Seitigkeit tauchte bereits bei Steiners Ideen zur Linkshändigkeit auf. Laut Steiner könne eine echte Händigkeit an den Handlinien erkannt werden. Die linke Hand würde bei einer echten Linkshändigkeit aussehen wie sonst die rechte Hand. Er unterscheidet auch zwischen Händigkeit und Seitigkeit (Dominanz nicht nur der Hand sondern auch Bein, Auge, Ohr). Teilweise verwendet er beide Begriffe jedoch wieder äquivalent.
Die Idee, dass eine Linkshändigkeit nur dann „echt“ sei, wenn sich die Dominanz auch auf das linke Bein, Auge und Ohr beziehen würde hat sich in der Waldorfpädagogik bis heute gehalten. Denn neben dem BdFWS führt auch Glöckler diese Idee in der Kindersprechstunde aus. War Steiner noch der Meinung, dass auch eine echte Linkshändigkeit behandelt werden müsse, kommuniziert zumindest der BdFWS das heute anders. Wer jedoch in der Schulpraxis entscheidet ob eine echte Linkshändigkeit vorliegt oder vielleicht doch einfach das Schreiben mit rechts versucht wird, hängt dann wohl von den einzelnen Lehrkräften und dem Wissen und Engagement der Eltern ab.
Tatsächlich ist es jedoch vollkommen egal ob die Seitendominanz nur die Hand oder auch Bein, Augen und Ohr betrifft. Linkshändige Menschen sollten immer entsprechend ihrer Handdominanz mit der linken Hand schreiben.
Steiner hat noch weitere Ideen zu Beidhändigkeit (könne zu Schwachsinnigkeit führen), Händigkeit in Verbindung mit der menschlichen Entwicklung und generell zum Schreiben lernen geteilt. Die hier genannten sind aus meiner Sicht jedoch die meist aufgeführten Ideen wenn es um Linkshändigkeit im Waldorfkontext geht.
Leider wird auf Grundlage dieser, großteils esoterischen, Ideen auch heute noch versucht, linkshändige Kinder in Waldorfkindergärten und an Waldorfschulen auf das Schreiben mit der rechten Hand umzuschulen. Und das, obwohl eine aktive Umschulung bereits seit 2002 in Deutschland als Körperverletzung gilt.
Anlässlich des heutigen Weltlinkshändertags möchte ich mit meinen Artikeln und in meinem Podcast auf dieses Thema aufmerksam machen. Insbesondere auf die spezielle Situation im Kontext Waldorfpädagogik. Im Rahmen meiner Linkshänderwoche erscheinen in den kommenden Tagen noch weitere Beiträge. Heute ist parallel meine allererste Podcastepisode online gegangen. Darin betrachte ich die Argumente die zur Umschulung von Linkshänder*innen im Waldorfkontext immer wieder angebracht werden. Die Episode ist eine gute Ergänzung zu diesem Artikel.
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