Meine Anthroposophie-, Waldorf- und Esoterik-Vergangenheit Teil 2

Teil 2: Erwachsenenalter und Ausstieg

In diesem Teil geht es um meine Anthroposophie-, Waldorf- und Esoterik-Vergangenheit mit Fokus auf mein Erwachsenen-Leben, meinen Ausstieg und die Folgen des Ganzen bis heute. Im ersten Teil habe ich bereits über meine Erfahrungen in Kindheit und Jugend geschrieben.

1 Erwachsenenalter

Ich bin mit 17 Jahren von zu Hause ausgezogen und habe mit 21 Jahren das Abitur an der Waldorfschule gemacht. Ab da war ich im Prinzip raus aus dem unmittelbaren Anthroposophie-Kosmos. Insbesondere die Esoterik, aber auch Verschwörungserzählungen und sektenähnliche Strukturen haben weiterhin eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ebenso diverse anthroposophische Ideen und Konzepte, nur ohne, dass mir deren Ursprung bewusst war.

Von „Krankheiten haben einen Sinn und wollen mir etwas sagen“ über Karma und Wiedergeburt bis hin zur Lebensaufgabe, die ich unbedingt herausfinden müsse, war Vieles dabei. Ebenso der Glaube an Engel und andere unsichtbare Wesen. Nichts davon hätte ich damals zugegeben und nichts davon hatte eine große und bewusste Bedeutung für mich. Alles davon hat aber meine Entscheidungen, mein Denken und mein Handeln beeinflusst. Spirituelles Coaching, Manifestieren und die Existenz hellsichtiger Fähigkeiten haben mich als Ideen genauso begleitet, wie Archetypen, Feng Shui, TCM und Räuchern zur angeblichen Reinigung.

Ich habe einen Abstecher in die Esoterik- und Spiritualitäts-Ecke gemacht. Ich bin fast in einer kleinen Sekte gelandet. Stichworte: Chemtrails, Lichtnahrung und Geld existiert eigentlich nicht (war mir dann aber doch etwas zu abstrus). Ich wollte an Selbstheilung durch Manifestation und die richtige Meditation glauben. Nach und nach kamen Themen aus dem Bereich der Persönlichkeitsentwicklung dazu. Ich wollte erfolgreich sein und glaubte daran, dass ich dafür nur das richtige Mindset bräuchte. Ich hatte sogar einen Podcast, den ich später wieder gelöscht habe, da ich teils nicht mehr vertreten konnte, dass diese Inhalte weiter verbreitet werden. Generell habe ich so ziemlich alle meiner Inhalte, die ich in dieser Zeit geteilt habe, mittlerweile gelöscht.

Meiner Geldknappheit und einer doch irgendwo vorhandenen und stetig nagenden Skepsis sei Dank, bin ich nie so richtig in diese Bereiche abgerutscht. Sie haben mich aber insgesamt rund 15 Jahre lang begleitet.

Wie viele esoterische Elemente es in meinem Leben tatsächlich gab, wird mir erst nach und nach klar. Und auch wenn ich nie „all in“ gegangen bin, so haben sie doch mein Leben in dieser Zeit geprägt.

2 Mein Ausstieg

Obwohl ich im Teenage-Alter unbedingt die Waldorfschule verlassen wollte, habe ich Waldorfschulen nie per se kritisiert. Jahrelang sagte ich: „Für mich war die Waldorfschule nicht gut“. Eigene Kinder, das war mir immer klar, hätte ich jedoch nicht auf eine Waldorfschule geschickt. Der bewusste Ausstieg, inklusive Kritik an der Anthroposophie und Waldorf an sich, kam jedoch erst deutlich später.

Der Anlass und der Anfang

Ende 2019 begann ich mich mit bedürfnisorientierter Erziehung und der Entwicklung von Kindern zu beschäftigen. Über dieses Thema kam ich, damals noch sehr langsam, zu verschiedenen weiteren Themen. Zudem bekamen durch die Corona-Pandemie Themen wie Medizin, Wissenschaftskommunikation und gesellschaftliche Entwicklungen seit langem überhaupt wieder oder erstmals eine Bedeutung in meinem Leben. Den Linksrutsch, von dem immer alle gesprochen haben, den habe ich seit spätestens 2020 und insbesondere 2021 tatsächlich vollzogen. Und das war der Anfang vom Ausstieg. Nicht nur aus der Anthroposophie, sondern vor allem auch aus der Esoterik insgesamt.

Ich habe außerdem entdeckt, dass ich nichtbinär bin. Und ich habe herausgefunden, dass ich nicht einfach faul bin, sondern seit mindestens 2019 in einer immer schlimmer werdenden Depression steckte. 2021 habe ich mich als eine der wenigen Personen aus meiner Familie impfen lassen. Im Herbst 2021 habe ich nach einem Klinikaufenthalt eine Psychotherapie begonnen. Gegen Ende des Jahres entdeckte ich die ersten anthroposophie-kritischen Accounts. Meine Therapeutin fragte ich in einer der ersten Stunden, ob sie Verbindungen zu Waldorf und Anthroposophie hat. Sie verneinte. Ich wäre aber auch geblieben, hätte sie ja gesagt. Damals dachte ich noch, ich könnte die Themen in der Therapie einfach ausklammern. Mit Entdecken der anthroposophie-kritischen Accounts in Social Media, der Therapie und einem ersten vorsichtigen Hinterfragen von Esoterik nahm damals mein bewusster Ausstieg an Fahrt auf.

Aktiv Kritik üben

Ein Schlüsselmoment war für mich, als ich Anfang 2022 herausfand, was in der „Kindersprechstunde“ von Michaela Glöckler bereits in den 80er Jahren über Linkshändigkeit und die Umschulung auf rechts stand. Zu erkennen, dass die Schäden einer Umschulung bereits damals bekannt waren, dass Umschulungen nicht „aus Versehen“ passierten, sondern gewollt waren und dass all das mit den anthroposophischen Ideen von Rudolf Steiner begründet wurde, war für mich ein Schock. Einer, der erst sehr schmerzhaft war und später eine Menge Energie und Wut freisetzte. Bereits im Frühjahr 2022 veröffentlichte ich meinen ersten eigenen anthroposophie-kritischen Beitrag auf meinem Instagram-Account.

Ab diesem Zeitpunkt schrieb ich immer wieder und immer regelmäßiger über meine eigenen Erfahrungen. Mich interessierte die Theorie dahinter. Davon zu lesen und selbst zu schreiben half mir, zu verstehen und zu verarbeiten. In der Therapie tauchte die Anthroposophie und meine Waldorfzeit immer wieder auf. Durch meine Recherchen, das Schreiben und den Austausch mit anderen Anthroposophie-Betroffenen wurde mir immer bewusster, dass meine Erfahrungen nicht in erster Linie individuell waren, sondern System hatten. Dass andere die gleichen oder sehr ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Und mir wurde immer bewusster, wie anthroposophisch meine Familie und damit auch meine Kindheit und Jugend tatsächlich waren.

2022 begann auch mein bewusster und immer entschiedenerer Ausstieg aus der Esoterik. Ich begann die Wissenschaft zu schätzen. Erlaubte mir das, was mir als Kind verwehrt wurde: Wissen aufzusaugen. Gleichzeitig sortierte ich die ersten Bücher über Esoterik und (spirituelles) Coaching aus. Ich arbeitete mich 2022 nicht nur aus meiner Depression heraus, sondern auch aus dem Sumpf aus Esoterik, Anthroposophie, Wissenschaftsskepsis und der kapitalistischen und sozialdarwinistischen Vorstellung, dass alle Menschen die gleichen Chancen hätten.

2023 machte ich eine Ausbildung zum Agile Coach und benannte dort regelmäßig die esoterischen und pseudowissenschaftlichen Inhalte und Aussagen. In der Form aktiv zu sein war einerseits hart und anstrengend, andererseits aber auch sehr (be-)stärkend. Da kam die Idee auf, einen Anthroposophie-kritischen Blog zu starten. Die Arbeit an diesem Blog war von Anfang an ein aktiver Teil meines Ausstiegs. So viele Themen, so viele Fragen, so viele Aha-Momente. Im gleichen Jahr beschäftigte ich mich auch näher mit sektenartigen Strukturen und problematischen Gruppen. Ich erkannte einige Parallelen zur Anthroposophie und meinen Erfahrungen und es entstand der Wunsch, dies näher zu betrachten. Auch das stärkte meine Idee eines eigenen Blogs, da mir die Begrenzungen von Social Media dafür zu eng waren.

3 Die Folgen

Meine hier im Ansatz und in Auszügen geschilderte Vergangenheit hat Auswirkungen bis in mein heutiges Leben. Auch die Folgen werde ich an dieser Stelle nur anreißen. In folgenden Erfahrungsberichten werde ich voraussichtlich immer wieder detaillierter darauf eingehen. Erwähnen möchte ich sie hier der Vollständigkeit halber aber jetzt schon.

Psyche und Trauma

Die anthroposophischen Elemente in meiner Kindheit und Jugend haben mich traumatisiert und meiner Psyche und Entwicklung sehr geschadet. Das ist nicht nur meine eigene Einschätzung, sondern wurde mir mehrfach von verschiedenen Fachpersonen so bestätigt. Die Aufarbeitung kostet nicht nur unheimlich viel Kraft und ist schmerzhaft, ich habe auch immer wieder mit Dissoziationen beim Thema Anthroposophie zu kämpfen. Die Waldorfoptik und der typische Waldorfgeruch sorgen beispielsweise noch immer für Beklemmungen und können bis zu leichten Panikattacken führen. Und meine Albträume haben regelmäßig mit meiner Schulzeit und anthroposophischen Personen aus meiner Vergangenheit zu tun.

Wissen und Zugehörigkeit

Ich habe große Wissenslücken und weiß oft nicht, ob mein Wissen tatsächlich stimmt. Zu oft habe ich feststellen müssen, dass das, was ich im anthroposophischen Kontext gelernt habe, schlicht falsch ist. Das meint sowohl mein Schulwissen als auch das außerschulisch erworbene, alltägliche Wissen. Ebenso der Bereich Popkultur. Menschen meines Alters teilen Erfahrungen, Inside-Jokes und Erinnerungen, bei denen ich außen vor bin, weil mir der Zugang dazu verwehrt wurde. Ich teile in vielen Bereichen nicht das Wissen und die Erfahrungen meiner Generation. Noch heute führt das regelmäßig zu einem Gefühl des Anders-Seins, des Außen -vor-Seins.

Verschwörungsideen, Kräftezehrend und Gesundheit

Ich bin in gewisser Weise anfälliger für Verschwörungserzählungen und magisches Denken. Dagegen an zu arbeiten, bewusst zu hinterfragen, mich gegen den immer wieder auftauchenden „was wäre, wenn es doch stimmt“-Gedanken zu wehren, kostet Kraft und ist Arbeit. Die Sorge, doch wieder in die alten Denkmuster zu verfallen, kostet Kraft. Kraft, die mir für andere Dinge fehlt. Leichtigkeit, die dadurch verloren geht.

Die Ansichten, die mir über Krankheiten und deren Bedeutung und Behandlung vermittelt wurden, sitzen bis heute tief. Auch, wenn ich sie mittlerweile entlarvt habe und mit evidenzbasiertem Wissen überschreibe. Sie wirken nach wie vor. Eine Impfung bedeutet nicht nur den Aufwand und die mögliche Impfreaktion auszuhalten. Es bedeutet für mich auch, mit der tiefsitzenden Angst, die mir bereits als Kind vermittelt wurde, umgehen zu müssen. Gleiches gilt teils für Medikamente. Auch die Idee, dass Krankheiten eine Bedeutung haben und wichtig für die Entwicklung sind, kann ich nicht einfach aus meinem Gehirn löschen. Ich glaube da heute nicht mehr dran. Dennoch kommt der Gedanke immer mal wieder hoch. Auch das kostet alles Kraft.

In so ziemlich allen Lebensbereichen gibt es anthroposophische Ideen, Konzepte und Angebote. Für mich bedeutet das: in fast allen Lebensbereichen muss ich diese Ideen und Konzepte erkennen, aufarbeiten und loswerden. In fast allen Lebensbereichen hat meine anthroposophische und esoterische Vergangenheit bis heute negative Auswirkungen.

Ist die Anthroposophie an allem Schuld? Mit Sicherheit nicht. Sie hat jedoch einen sehr großen Anteil an vielen negativen Dingen in meinem Leben.

4 Ausstieg als Prozess

Seit Anfang 2024 beschäftige ich mich näher mit Verschwörungserzählungen. Auch da wieder zu erkennen, wie viele dieser Elemente es in meinem Leben gab und gibt, hat mir noch einmal klar gemacht, dass ein Ausstieg nichts Einmaliges ist. Es ist ein Prozess. Die anthroposophischen und anderen esoterischen Ideen haben mich umfangreich und tiefgehend jahrelang beeinflusst. Ich habe all dies internalisiert. Das lässt sich aus meiner Sicht und Erfahrung nicht in einem Rutsch wieder auflösen. Insbesondere, wenn die Beeinflussung, wie bei mir, bereits als Kind und über viele Jahre hinweg stattgefunden hat. Mein Ausstieg dauert also an. Die Aufarbeitung dauert an.

Zeitgleich mit der konkreteren Arbeit an meinem Blog gab es im Frühjahr 2024 einige Konflikte und für mich schmerzhafte Entwicklungen in der Anthroposophie-Kritik-Community. Auch die Beschäftigung damit, die Frage, wie und anhand welcher Werte ich arbeiten möchte und wofür ich das eigentlich alles mache, sehe ich als Teil meines Ausstiegsprozesses. Für mich ist klar: Ein Ausstieg aus einer so umfangreichen Weltanschauung, die mein Leben so sehr beeinflusst(e), hat Einfluss auf alle Bereiche meines Lebens und braucht Zeit. Ich bin sehr gespannt, was mich da noch erwartet. Und ich bin froh, dass ich einen so großen Teil bereits geschafft habe.

Dieser Blog und damit auch dieser Text hier ist Teil meines Ausstiegs und meiner Aufarbeitung. Nicht nur, weil ich hier die Themen behandele, die mich beschäftigen. Sondern auch, weil allein das Öffentlichmachen eine Menge bei und in mir in Bewegung gesetzt hat. Stichwort: Nestbeschmutzung, interne Klärung und Verrat der „eigenen Gruppe“.

Wenn du magst, freue ich mich sehr über deine eigenen Erfahrungen in diesem Bereich und wie dein Ausstieg war bzw. ist.

Robin Bartels

Robin Bartels, Ende 30, Exwaldi aka negativ von der Anthroposophie betroffen. Schreibt hier über die verschiedenen Themen im Kontext Anthroposophie und über deren eigene Erfahrungen. Auf der Seite "Über mich" gibt es mehr Infos zu Robin.

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