Meine Anthroposophie-, Waldorf- und Esoterik-Vergangenheit – Teil 1

Teil 1: Kindheit und Jugend

In diesem Artikel berichte ich von meiner Anthroposophie-, Waldorf- und Esoterik-Vergangenheit mit Fokus auf Kindheit und Jugend.

Meine Eltern entdeckten die Anthroposophie einige Jahre vor meiner Geburt. Genauer gesagt: die anthroposophische Medizin. Und dann die anthroposophische Pädagogik (Waldorfkindergarten) und die Christengemeinschaft. So zogen nach und nach immer mehr anthroposophische Ideen in unseren Alltag ein. Natürlich begleitet von einer ordentlichen Portion Esoterik und, wie ich mittlerweile weiß, auch der ein oder anderen Verschwörungserzählung. Wie hat das mein Leben geprägt und bis heute beeinflusst? Dieser Artikel soll einen Einblick geben.

1 Waldorfpädagogik

Mit ungefähr 5 Jahren bin ich in einen Waldorfkindergarten einer deutschen Großstadt gekommen. Im Sinne der Anthroposophie wurde ich vorher zu Hause von meiner Mutter und  anderen Familienmitgliedern betreut.

Bis zum Übergang in die Schule gab es für mich also den Waldorfkindergarten. Mit allem drum und dran. Eurythmie. Heileurythmie. Harfe spielen. Und auch meine Umschulung auf die rechte Hand begann dort. Das war Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in Westdeutschland.

Mit 7 Jahren kam ich in die Waldorfschule. Zusammen mit vielen meiner Freund*innen aus dem Kindergarten. Auf dem Einschulungsfoto sind wir 37 Kinder, eine übliche Größe für eine Waldorfklasse. Dass ich bereits Lesen und Schreiben konnte, habe ich teils versteckt. Es wurde sehr deutlich gezeigt, dass „so etwas“ nicht erwünscht sei.

Im Sommer zwischen der 2. und 3. Klasse sind wir umgezogen und ich ging ab da, bis einschließlich der 11. Klasse auf eine Waldorfschule auf dem Dorf.

Ich wollte mehrfach die Schule verlassen und auf ein Gymnasium oder auf ein Internat wechseln. Beides wurde mir nicht erlaubt. Nach der 11. Klasse war aufgrund der 2. Fremdsprache mein Abitur gefährdet. Die Lösung: Ich zog alleine 350 km weit weg in unsere Heimatstadt, wohnte dort ohne meine Familie und ging auf eine Waldorfschule. Hauptsache Waldorf.

Für das Abitur brauchte ich drei Anläufe. Für den dritten Versuch wechselte ich innerhalb der Stadt auf eine andere Waldorfschule und schaffte mein Abitur mit Ach und Krach, bevor auch an den Waldorfschulen bundesweit das Zentralabitur eingeführt wurde.

Ich habe also einen Waldorfkindergarten und vier Waldorfschulen, sowohl in der Großstadt als auch auf dem Land besucht.

Zum Thema (Waldorf-)Pädagogik gehört  auch noch, dass ich mehrere Musikinstrumente bei Anthroposoph*innen gelernt habe. Neben der Schule habe ich ebenfalls mehrfach in Eurythmie-Märchen mitgespielt und an einem Turnkurs an der benachbarten anthroposophisch-heilpädagogischen Schule teilgenommen.

2 Mein Elternhaus

Wie eingangs erwähnt, haben meine Eltern die Anthroposophie einige Jahre vor meiner Geburt über die anthroposophische Medizin entdeckt. Nach und nach wurde immer mehr in unserem Leben von der Anthroposophie beeinflusst. Später, als ich bereits nicht mehr Zuhause gewohnt habe, sind einige Dinge wieder etwas weniger streng anthroposophisch geworden. So war ein Geschwister von mir beispielsweise auf einem Gymnasium. Nichtsdestotrotz lassen sich bis heute überall die anthroposophischen Einflüsse erkennen – mal mehr, mal weniger deutlich und streng.

Beide Elternteile haben Texte von Rudolf Steiner und anderen Anthroposoph*innen gelesen. Ein Elternteil hat die Ausbildung zur Waldorf-Klassenlehrkraft sowie in der anthroposophischen Biographiearbeit absolviert. Wir waren also nicht zufällig auf der Waldorfschule, weil es eine Alternative zur staatlichen Schule war. Sondern wir waren eine durch und durch anthroposophische Familie. Auch wenn einige Bereiche nicht ganz so streng waren, so gehörten wir doch ganz klar zu den Anthro-Familien an der Schule.

Auch mein gesamtes Umfeld, abgesehen von den Großeltern, war anthroposophisch geprägt: Meine Patentanten. Die Freund*innen meiner Eltern, die zu Besuch kamen. Meine Lehrer*innen für die Musikinstrumente (häufig gleichzeitig befreundete Personen meiner Eltern). In meinem Leben gab es also nur sehr vereinzelt Menschen, die nicht anthroposophisch waren: meine Großeltern, der eine Lehrer für Oboe, mein Stepptanz-Lehrer.

Medien waren im Sinne der Anthroposophie gar nicht oder nur eingeschränkt vorhanden und verfügbar. Sogar unser Weihnachtsbaum war nach den anthroposophischen Vorgaben geschmückt. Alle Bereiche meines Lebens waren anthroposophisch geprägt.

Auch heute noch sind meine Eltern von der Anthroposophie überzeugt. Beide Elternteile wissen um meine Kritik an der Anthroposophie. Darüber sprechen können oder wollen wir jedoch nicht.

3 Religion

Mit 5 Jahren wurde ich in der Christengemeinschaft getauft. Wir gingen regelmäßig sonntags in die Kirche. In die sogenannte Kinderhandlung

Wir haben die Feste der Christengemeinschaft gefeiert und abends musste ich typisch anthroposophische Gebete sprechen, einige davon stammten von Rudolf Steiner selbst. Zu Weihnachten wurden die im anthroposophischen Kontext typischen Lieder gesungen und Geschichten vorgelesen. Bei uns kam das Christkind und selbstverständlich auf keinen Fall der Weihnachtsmann.

Ich habe in der Schule am Religionsunterricht der Christengemeinschaft teilgenommen und wurde mit 14 Jahren in der Christengemeinschaft konfirmiert. In mindestens zwei Sommerferien war ich auf dem Methorst, einem Ferienlager der Christengemeinschaft.

In meinem Kinderzimmer hingen die im anthroposophischen Kontext üblichen Engelsbilder. Das Fotoalbum, welches ich zur Konfirmation geschenkt bekommen habe, beginnt mit den Gebeten meiner Kindheit und Jugend.

Noch vor einigen Jahren hätte ich nicht gesagt, dass ich religiös aufgewachsen bin. Es war für mich einfach normal und die Sachen fanden so ja auch in der Schule statt. Mittlerweile ist mir jedoch bewusst, wie sehr meine Kindheit und Jugend von der Christengemeinschaft geprägt waren.

4 Medizin

Von klein auf war ich hauptsächlich bei anthroposophischen Ärzt*innen und bei Heilpraktiker*innen. Wenn ich mit anderen Exwaldis aus den Städten, in denen wir gelebt haben spreche, dann kennen wir teils die gleichen Namen der Ärzt*innen.

Mit 8 Jahren hatte ich eine heftige Lungenentzündung, die rein anthroposophisch und homöopathisch und damit ohne Antibiotika behandelt wurde. Geimpft wurde ich lediglich gegen Tetanus. Bei Krankheiten, Verletzungen und Unwohlsein wurde ich standardmäßig mit anthroposophischen und homöopathischen Mitteln „behandelt“. Habe ich mich gestoßen, gab es Globuli. Bin ich hingefallen und habe mir die Knie aufgeschrammt, gab es Globuli und Arnikatinktur. Konnte ich nicht schlafen oder war traurig, gab es Globuli.

Ich habe diverse Kinderkrankheiten durchgemacht und erinnere mich an endloses Liegen im dunklen Zimmer ohne Ablenkung genauso wie an etliche Fieberträume. Schon als Kind wusste ich, dass Krankheiten „wichtig“ seien für meine „Entwicklung“. Ich war nie einfach nur krank. Es war eine Notwendigkeit für meine Entwicklung. (Was für ein esoterischer Quatsch!)

Ich war längere Zeit bei der esoterischen Craniosacral-„Behandlung“ (das war zumindest insofern angenehm, als dass ich dort nach der Schule erstmal eine Stunde schlafen konnte). Und wegen meiner Kopfschmerzen war ich bei einer anderen esoterischen „Behandlung“. Gegen meine Kopfschmerzen und Migräne habe ich keine Schmerzmittel bekommen. Bei Fieber keinen Fiebersaft. Dafür hatten wir eine große Auswahl an wirkungslosen Globuli zu Hause, die ich aufgrund der Süße zumindest immer gerne gegessen habe.

Ich habe auch keine psychologisch-psychiatrische Behandlung erhalten. Statt Diagnostik, Therapie und passender Medikation gab es Heileurythmie, Musikunterricht, „künstlerisch“-handwerkliche Aufgaben, Craniosacral und Globuli zum „Ausgleichen“ meiner Probleme. Wirkliche Hilfe? Eher Fehlanzeige.

Gleichzeitig war ich jedoch häufig aufgrund heftiger Bauchschmerzen im Krankenhaus. Ebenso bei Stürzen vom Pferd, heftigen Stürzen auf den Kopf oder wenn der Verdacht eines Knochenbruchs bestand.

Heute weiß ich: Ein Großteil war schlicht medizinische Vernachlässigung. Nicht aus Böswilligkeit seitens meiner Eltern, sondern aufgrund des Glaubens an die Anthroposophie. Medizinische Vernachlässigung bleibt es dennoch.

5 Esoterik und Verschwörungserzählungen im Elternhaus

Neben den bereits erwähnten esoterischen „Behandlungen“ gab es viele weitere esoterische Elemente bei uns zu Hause. Edelsteine am Bett von uns Kindern oder als Kettenanhänger mit einem Stein (angeblich) passend zu unserer Geburtszeit. Es wurden aufwendige Horoskope für uns Kinder in Auftrag gegeben und dass ich am Tag der Wintersonnenwende geboren wurde, galt immer als ein besonderes Zeichen.

Von energetisiertem Wasser über anthroposophisch-esoterische Ernährungsideen bis hin zur Farbgestaltung der Kinderzimmerwände: Es war für jeden Lebensbereich etwas dabei. Fabelwesen, Engel und Co. galten als real. Der Satz „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als die Wissenschaft beweisen kann“ war früher ein völlig normaler Satz für mich. Karma, Reinkarnation, Indigo-Kinder, Seelenaufgabe, Energien lenken und beeinflussen können, waren scheinbar völlig selbstverständliche Konzepte. Zu Hause, in meinem Umfeld und in der Schule.

Alle diese Dinge existierten völlig selbstverständlich in unserem Alltag. Erst viel später habe ich erkannt, wie viel Esoterik in meiner Kindheit und Jugend tatsächlich präsent war.

Ebenso geht es mir heute mit Verschwörungserzählungen. Ich begreife erst langsam, wie präsent einige davon bei uns zuhause waren. Nichts davon hat jemals viel Raum eingenommen. Es waren eher so nebenbei Themen, die einfach da waren. Kleine Verschwörungssnacks quasi. Nichtsdestotrotz waren sie da und haben nachhaltig gewirkt.

Im zweiten Teil geht es um meine Erfahrungen im Erwachsenenalter und meinen Ausstieg.

Wenn du magst, freue ich mich sehr über einen Kommentar mit deinen eigenen Erfahrungen.

Robin Bartels

Robin Bartels, Ende 30, Exwaldi aka negativ von der Anthroposophie betroffen. Schreibt hier über die verschiedenen Themen im Kontext Anthroposophie und über deren eigene Erfahrungen. Auf der Seite "Über mich" gibt es mehr Infos zu Robin.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Lisa

    Es ist wirklich unglaublich. Es könnte meine Kindheit sein die du da beschreibst.

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