Der Medienkompass vom Bund der Freien Waldorfschulen Teil 1

Teil 1: Einführung, anthroposophische Annahmen, Tatsachenbehauptung und mehr

0 Einleitung

Der Medienkompass vom Bund der Freien Waldorfschulen (BdFW) ist eine Broschüre für Eltern. Ich möchte ihn hier als Kommunikations- und Marketingprodukt betrachten. Der Schwerpunkt liegt also weniger auf der inhaltlichen, sondern auf einer übergeordneten Ebene. In diesem ersten Teil geht es insbesondere um die anthroposophischen Ideen und Ideale und wie diese im Medienkompass vermittelt werden.

Medien und Medienpädagogik spielen eine wichtige Rolle in der Anthroposophie und insbesondere in der Waldorfpädagogik. Bereits die „Kindersprechstunde – Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber“ von Michaela Glöckler in der Ausgabe von 1986 enthält im Kapitel „Schädigende Umwelteinflüsse“ mehrere Unterkapitel zu Medien (da mir keine früheren Ausgaben vorliegen, kann ich zu denen keine Angaben diesbezüglich machen). Rudolf Steiner selbst sprach bereits vor über 100 Jahren über die damals existierenden Medien. So bezeichnete er Musik aus Grammophonen als Geschmacksverirrungen1 und den Kinematograph als besonders hervorragendes Mittel, um den Menschen in den Materialismus hinein zu führen2. Es hat in der Anthroposophie also von Anfang an Tradition, den Medien, vorsichtig ausgedrückt, eher skeptisch gegenüber zu stehen. Insbesondere in Hinblick auf Kinder und ihre Entwicklung genießen Medien in der Anthroposophie einen eher zweifelhaften Ruf. Daher ist es nur verständlich, dass auch der Bund der Freien Waldorfschulen zu diesem Thema informiert. Unter anderem mittels der Broschüre „Medienkompass – Eine Orientierungshilfe für Eltern im Mediendschungel“.

1 Der Medienkompass

Anfang 2024 wurde der Medienkompass in 5. überarbeiteter Neuauflage veröffentlicht. Vorherige Ausgaben der Broschüre liefen teils unter dem Namen „Struwwelpeter 2.1“. Ergänzend zum Medienkompass für Eltern gibt es einen „Begleitbrief zur Nutzung in der Elternarbeit“, der an die Waldorfschulen und deren Lehrkräfte gerichtet ist. Für Lehrkräfte existieren zudem die Broschüren „Struwwelpeter 2.0“ und „Medienpädagogik an Waldorfschulen“. Alle aktuell verfügbaren Broschüren sind über den Bund der Freien Waldorfschulen erhältlich3. In diesem Artikel geht es um die 5. und damit aktuelle Ausgabe des Medienkompasses.

Allgemeines zum Medienkompass

Herausgegeben wird der Medienkompass vom Bund der Freien Waldorfschulen (BdFW), einer föderativen Vereinigung der Waldorfschulen in Deutschland. Er ist als kostenloser Download und für wenige Euro als Druckausgabe über den Shop erhältlich. Die aktuelle Ausgabe umfasst 8 Kapitel auf 54 Seiten. Das Inhaltsverzeichnis befindet sich auf der letzten Seite und ist in der digitalen Form nicht klickbar.

Bei mir erweckt dies den Eindruck, als solle der Medienkompass bevorzugt von vorne nach hinten durchgelesen werden und nicht nach Bedarf nur einzelne Kapitel angeschaut werden.

2 Begriffe, anthroposophische Ideale und Vergleiche

Begriffe

Wie oft in der Anthroposophie werden auch hier Begriffe verwendet, die entweder spezifisch anthroposophisch sind oder eine vom gängigen Verständnis abweichende Bedeutung haben.

Direkte und indirekte Medienpädagogik

Die Bezeichnung „indirekte Medienpädagogik“ ist mir ausschließlich im anthroposophischen Kontext begegnet – genauer gesagt: im Waldorf Kontext. Unter direkter Medienpädagogik wird hier all das verstanden, wo direkt mit Medien oder explizit vorbereitend zu Medien gearbeitet wird. Beispielsweise Internetrecherche, Medienvereinbarungen, Umgang mit Social Media, rechtliche Grundlagen und auch analoge Methoden wie „das analoge soziale Netzwerk“4, welches zur Vorbereitung auf den Umgang mit Social Media dienen soll.

Als indirekte Medienpädagogik gilt alles, was laut anthroposophischen Ideen notwendig ist, um bei Kindern und Jugendlichen die erforderliche innere Reife für den Umgang mit Medien zu fördern. Darunter fallen unter anderem Alltagsaktivitäten wie backen, kochen, putzen, kreative Tätigkeiten wie malen oder basteln, aber auch viel Zeit draußen, Bewegung oder die Medienabstinenz in den ersten Jahren.

„Die indirekte Medienpädagogik richtet ihr Augenmerk darauf, den jungen Menschen so zu erziehen, dass er in einer Zeit, in der die Technik unser Leben immer mehr durchdringt, zu einer selbstbewussten, starken und selbstständigen Persönlichkeit heranwächst. Die direkte Medienpädagogik hilft den jungen Menschen, die Medienlandschaft umfassend zu verstehen sowie sinnvoll und verantwortlich zu nutzen.“ (Seite 4)

Medienmündigkeit vs. Medienkompetenz

Unter Medienmündigkeit wird gemeinhin verstanden, dass eine Person mit Medien beherrscht und autonom umgeht, statt sich von den Medien beherrschen zu lassen. Die Waldorfpädagogik legt den Fokus zusätzlich auf die innere Reife des Kindes (nach anthroposophischer Annahme). Medienmündigkeit in der Waldorfpädagogik bedeutet also, dass ein Kind nach anthroposophischer Vorstellung weit genug ist, um das jeweilige Medium zu nutzen. Sprich: die dafür erforderlichen Entwicklungsphasen (im anthroposophischen Verständnis) bereits teils oder vollständig durchlaufen hat.

Medienkompetenz meint hingegen die direkten Kompetenzen, die für die Nutzung von Medien notwendig sind. Für einige beginnt das bereits beim Schriftverständnis und den Schreibfähigkeiten, bei anderen startet Medienkompetenz bei der Benutzung von Geräten wie Smartphone und Computer, dem Verständnis von Computerprogrammen und dem Wissen über Social Media. Im Medienkompass wird nicht klar benannt, wo genau die Medienkompetenz laut BdFW beginnt.

Entwicklungsaufgaben

Entwicklungsaufgaben meint im anthroposophischen Kontext nicht bzw. nicht nur die kindliche Entwicklung im Sinne der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Vielmehr meint es vor allem die esoterische Vorstellung der Jahrsiebte und den ganz individuellen Aufgaben im Sinne von Reinkarnation und Karma. Im Medienkompass wird nicht zwischen diesen drei Arten von Entwicklungsaufgaben weder unterschieden noch werden sie überhaupt benannt.

Entwicklungsabschnitte

Der Begriff „Entwicklungsabschnitte“ taucht in dieser Ausgabe des Medienkompass erstmals ausschließlich in dieser Form auf. In der vorherigen Ausgabe wird an einigen Stellen noch von Jahrsiebten gesprochen. Die Grafik auf Seite 5 findet sich fast identisch in der vorherigen Ausgabe.

Screenshot aus dem Medienkompass 2022. Er zeigt eine Abbildung mit den jeweiligen Medien und Aktivitäten der direkten und indirekten Medienpädakogik, aufgeteilt in 3 Abschnitte. Abschnitt 1 ist mit "1. Jahrsiebt", Abschnitt 2 mit "2. Jahrsiebt" und Abschnitt 3 mit "3. Jahrsiebt" betitelt. Diese Titel sind grün markiert

Screenshot aus dem Medienkompass 2022,
Hervorhebung in grün von mir
Screenshot aus dem Medienkompass 2024. Er zeigt eine Abbildung mit den jeweiligen Medien und Aktivitäten der direkten und indirekten Medienpädakogik, aufgeteilt in 3 Abschnitte. Abschnitt 1 ist mit "Frühe Kindheit", Abschnitt 2 mit "Kindheit" und Abschnitt 3 mit "Jugend" betitelt. Diese Titel sind grün markiert

Screenshot aus dem Medienkompass 2024,
Hervorhebung in grün von mir

Hier wird offenbar ganz bewusst auf eine anthroposophische Formulierung verzichtet. Am Inhalt selbst hat sich jedoch wenig bis nichts geändert.

In der Anthroposophie gibt es die Vorstellung der Entwicklung in Siebenjahresschritten. Sie ist eng verknüpft mit der anthroposophischen Vorstellung der verschiedenen Wesensglieder (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich) und der anthroposophischen Reinkarnationsvorstellung. Bei den Begriffen Entwicklungsabschnitte, Frühe Kindheit, Kindheit und Jugend handelt es sich also nicht in erster Linie um eine Altersspanne sondern vor allem um eine esoterische Vorstellung bezüglich der vermeintlichen Inkarnation und Entwicklung in Siebenjahresschritten.

Medienpädagogik vs. Pädagogik mit Medien

Im Medienkompass wird deutlich auf den Unterschied zwischen „echter“ Medienpädagogik und der Pädagogik mit Medien, bei der lediglich Medien im Unterricht verwendet werden, hingewiesen.

Unter Pädagogik mit Medien fällt beispielsweise die Verwendung von Videos, Audioformaten oder Apps zur Vermittlung von Unterrichtsstoff. Im Waldorfkontext dürfte dazu auch die (Nicht-)Verwendung von Schulbüchern fallen.

„Echte“ Medienpädagogik nutzt Medien nicht nur zur Vermittlung von Unterrichtsstoff, sondern vermittelt Kindern und Jugendlichen ein Verständnis für Medien, ihre Funktionsweisen und den richtigen Umgang mit ihnen.

Medienarten

Aus dem Medienkompass wird nicht deutlich, was alles unter den Medienbegriff fällt. So gilt dort beispielsweise das Schriftverständnis als Medienkompetenz und Bücher zum Vorlesen tauchen erst ab ca. vier Jahren auf, davor sollen Geschichten besser frei erzählt werden. Andererseits werden Bücher etwas später bei sämtlichen Einschränkungen nicht mehr inkludiert. Eine klare Vorstellung, welche Medien in welchem Alter okay sind, entsteht beim Lesen nicht.

anthroposophische Ideale

Produzieren vs. Konsumieren

Etwas eigenes zu produzieren sei wertvoller als etwas bereits vorhandenes „einfach nur“ zu konsumieren, unabhängig von der Altersstufe. Oder wie es im Kapitel Frühe Kindheit auf Seite 13 plakativ heißt: „Produktion vor Konsum“. Und das über alle Themenbereiche hinweg, vom selber basteln bis zur Produktion eines eigenen Hörspiels. Ein Daumenkino erstellen sei so um ein Vielfaches wertvoller, als ein Video zu schauen. Dass beides einen eigenen Wert haben und sogar verbindend genutzt werden kann, findet kaum eine Erwähnung.

Spannend ist dabei die Diskrepanz zwischen der Abwertung des Konsumierens fremder Inhalte für die eigenen Kinder auf der einen Seite. Und das Produzieren von beispielsweise einem Podcastprojekt für den Rundfunk, wo es andere dann aber wie selbstverständlich konsumieren und wertschätzen sollen, auf der anderen Seite. Eine Abwertung von nicht-anthroposophischen Personen findet im Medienkompass zwar nicht direkt statt. Ich frage mich jedoch, was es über die Waldorfsicht aussagt, wenn die eigenen Kinder möglichst produzieren sollen, weil das Konsumieren so viel weniger wertvoll oder sogar schädlich sei. Dies für andere Menschen, welche die produzierten Ergebnisse ganz selbstverständlich konsumieren sollen, plötzlich jedoch vollkommen okay sei.

Fantasie vs. Reproduktion

Die Gegenüberstellung von Fantasie und “einfacher” Reproduktion überschneidet sich teils mit der produzieren vs. konsumieren Thematik. Auch hier sei das, was „aus einem selbst entsteht“, um ein Vielfaches wünschenswerter und vor allem wertvoller für die kindliche Entwicklung als etwas Vorgegebenes zu reproduzieren. Neutrale Bauklötze seien besser als Steckbausteine. Malen auf einem leeren Blatt Papier sei besser als Ausmalbilder farblich zu gestalten. Je weniger etwas vorgegeben ist, desto besser in dieser Logik. Medien gelten als maximal vorgebend. Sie regen angeblich nicht nur die eigene Fantasie nicht an. Sondern:

„Die eigene Fantasietätigkeit wird praktisch ausgeschaltet“. (Seite 10)

Auch hier existiert wenig bis kein Spielraum für ein sowohl als auch oder für Zwischenstufen.

Internet vs. Reale Welt

Im Medienkompass wird eine klare Trennung zwischen der „realen Welt“, also der analogen Welt, auf der einen und dem Internet und allem Virtuellen, Technischen, Digitalen audf der anderen Seite gezogen. Neben der „realen Welt“ gibt es auch die „realen Spiele“ vs. Computerspiele, „reale Erfahrungen“ vs. Computersimulationen und sogar den „realen Mitmenschen“ dem wir gegenübersitzen vs. einer Stimme, die wir “über einen Apparat” hören. Alles Analoge wird aufgewertet als das Echte, Wahre, Reale und alles Digitale, Technische, Virtuelle wird somit abgewertet als „nicht real“ und weniger wertvoll.

Diese Unterteilung ist aus meiner Sicht weder möglich noch sinnvoll. Computerspiele erfordern häufig diverse Fähigkeiten und schulen diese. Simulationen können zum Training genutzt werden oder ermöglichen es, Dinge auszuprobieren, zu denen sonst kein Zugang möglich ist. All das Digitale, Virtuelle und Technische kann auch einfach eine Menge Freude bereiten. 

Und ob ich mit einer befreundeten Person telefoniere oder mich mit ihr im Park treffe: es ist und bleibt in beiden Fällen eine reale Person, mit der ich eine Beziehung habe. Und abgesehen davon bieten Telefon, Social Media und Video Calls vielen Menschen eine Teilhabe, die ohne diese Mittel gar nicht erst möglich wäre. Weil sie keine Gleichgesinnten in der Nähe haben. Weil sie chronisch krank sind und vor Ort Treffen viel zu anstrengend und kräftezehrend wären. Oder weil sie nicht die finanziellen Mittel oder die Zeit haben, um an einen gemeinsamen Ort zu reisen.

All das abzuwerten und als weniger real und weniger wichtig zu bezeichnen, ist realitätsfern, diskriminierend und ausschließend.

Und ja, schon Rudolf Steiner hat Technologien wie Film und Grammophon abgewertet. Das macht es aber nicht weniger absurd, ignorant, überheblich und mitunter diskriminierend. Weder damals noch heute.

Vergleich Medien und Autofahren

Der Medienkompass wird eingerahmt von einem Vergleich zwischen Autofahren und der Mediennutzung. Der Vergleich wird auf Seite 2 im ersten Kapitel ausführlich beschrieben. Auf Seite 44 wird sich im letzten Kapitel erneut darauf bezogen. Allein diese Tatsache finde ich sehr interessant. Den Vergleich an sich hingegen eher absurd und problematisch.

Der Vergleich

Selbst Autofahren ist gemeinhin erst ab 18 möglich. Niemand stelle das in Frage. Allen sei klar, dass die Entwicklung und Reife von Kindern und Jugendlichen für das eigenständige Autofahren früher nicht ausreiche. Und „Was für den Umgang mit Verkehrsmitteln selbstverständlich ist, gilt auch für die Nutzung von Informationstechnologien wie Smartphone, Computer und Internet“ (Seite 2). Die Kinder und Jugendlichen müssten, wie beim Autofahren, erst die nötige Reife entwickeln.

Einordnung des Vergleichs

Wieso finde ich den Vergleich absurd? Das Auto ist lediglich ein Verkehrsmittel von vielen. Kinder sind meist von klein auf Teil des Verkehrs. Sie fahren im Auto mit, lernen als Fußgänger*innen wie die Ampelschaltung funktioniert, wie sie sicher Fahrrad fahren oder die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Vermutlich würde niemand auf die Idee kommen, Kinder bis zu einem bestimmten Alter komplett vom Verkehr fernzuhalten. Erst recht würde wohl niemand auf die Idee kommen, dass Eltern in Gegenwart ihrer Kinder auf sämtliche Nutzung und Erwähnung von Verkehrsmitteln verzichten sollten, weil die bloße Existenz den Kindern schaden würde. Verkehr und Verkehrsmittel sind Teil unseres Alltags und Kinder lernen den sicheren Umgang nebenbei und in konkreten Übungen.

Natürlich gibt es Parallelen. Beides ist Teil unseres Alltags, beides birgt Gefahren und Möglichkeiten, beides muss in irgendeiner Form erlernt werden. Und ja, bei beidem gibt es Dinge, die erst ab einem bestimmten Alter sinnvoll sind. Im Vergleich werden jedoch sämtliche Medien mit dem eigenständigen Autofahren statt mit Verkehr allgemein verglichen. Ansonsten würde der Vergleich in der Form auch gar nicht die erwünschte Wirkung haben. Also ja, in der Form wie im Medienkompass finde ich diesen Vergleich absurd.

Darüber hinaus empfinde ich ihn als problematisch, denn natürlich hat er eine Wirkung. Kaum jemand würde sagen „Nein, also auch kleine Kinder sollten schon einfach so einen Führerschein bekommen“. Der Vergleich führt also im ersten Teil zu einer Zustimmung zum Geschriebenen. Und gegen diese Zustimmung muss sich im Anschluss aktiv gewehrt werden, indem der Vergleich an sich in Frage gestellt wird. Oder die Logik des Vergleiches wird eben auf die Mediennutzung übertragen und bietet so eine ideale Grundlage für all die danach folgenden vermeintlichen Gefahren, die Angstmache und die, aus meiner Sicht oft zweifelhaften, Tipps.

Im letzten Kapitel geht es um rechtliche Grundlagen bei der Mediennutzung. Direkt zu Beginn dieses Kapitels wird der Vergleich wieder aufgegriffen. Man könnte sagen, es sei gut gemacht, dass hier an den plakativen Vergleich vom Beginn angeknüpft wird. Oder man nennt es perfide, diesen Vergleich ausgerechnet dort wieder aufzufrischen, wo es um die tatsächlich vorhandenen potentiellen Risiken der Mediennutzung geht.

3 Anthroposophische Annahmen als Tatsachenbehauptung

Im Vorwort heißt es „Mit dieser Broschüre versuchen wir eine Orientierungshilfe zu geben, die sich aus den Erkenntnissen und Erfahrungen der Waldorfpädagogik speist.“ (Seite 1). Dort wird also sehr klar gesagt, dass der Medienkompass auf der Waldorfpädagogik beruht. Anthroposophie taucht im ganzen Dokument jedoch nur einmal in den Quellenangaben auf und auch Rudolf Steiner wird lediglich an einer Stelle erwähnt. Der Bund der Freien Waldorfschulen taucht auf der letzten Seite im Impressum und auf dem Deckblatt mittels Logo auf. Abgesehen von der Erwähnung im Vorwort taucht „Waldorfpädagogik“ jenseits der Quellen kein weiteres Mal auf und „Waldorfschule“ lediglich einmal.

Auch bei den innerhalb des Textes erwähnten Quellen ist nicht ersichtlich, welche anthroposophisch sind und welche nicht. Neben der Seitenzahl auf jeder Seite steht lediglich „Medienkompass“ und teils der Name des Kapitels. Liest jemand also auf einer der Inhaltsseiten, wird diese Person keinerlei Hinweise darauf finden, dass es sich hier um eine anthroposophische Broschüre handelt. Berücksichtige ich jetzt noch die Vermeidung explizit anthroposophischer Begriffe, dann entsteht bei mir der Eindruck, dass diese, explizit für Eltern gedachte, Broschüre möglichst unanthroposophisch wirken soll.

Als kleiner Vergleich: Im „Struwwelpeter 2.0“ von 2017, welcher für Lehrkräfte von Waldorfschulen gedacht ist, taucht „Waldorfpädagogik“ 37 mal, „Rudolf Steiner“ 9 mal und „Waldorfschulen“ 36 mal auf. Beide Broschüren werden vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegeben. Nur die Adressat*innen sind einmal die Eltern und einmal Lehrkräfte. Zufall? Ich denke nicht.

Umso problematischer empfinde ich im Medienkompass die Darstellung anthroposophischer Ideen als feststehende Tatsachen. Seien es die bereits oben genannten Begriffe Medienmündigkeit und Entwicklungsaufgaben oder die anthroposophische Idee der Jahrsiebte. All das wird dargestellt, als seien es unumstößliche Wahrheiten. Seite an Seite mit Studien von beispielsweise Bundesministerien und Krankenkassen. Nur wer sich explizit mit Anthroposophie auskennt, hat hier die Chance zu erkennen, wo alles anthroposophische Ideen und nicht wissenschaftlicher Konsens beschrieben wird.

4 Tipps, „Verbote“ und Einschränkungen im Medienkompass

In den drei Kapiteln Frühe Kindheit, Kindheit und Jugend gibt es jeweils einen Bereich mit Tipps bzw. Empfehlungen. Dort finden sich jedoch nicht nur Tipps, sondern vielfach eher Verbote und Einschränkungen. Gleichzeitig gibt es über alle Kapitel und Abschnitte hinweg immer wieder Tipps, Einschränkungen und Empfehlungen. Auch hier wird ein gezieltes Nachschauen erschwert und das Inhaltsverzeichnis ist keine große Hilfe. Zudem beziehen sich viele der Tipps nicht auf Medien. Bei einigen der Tipps könnte man großzügig sein und sie dem erweiterten Feld der Medienpädagogik zuschreiben. Viele beziehen sich jedoch einfach auf Alltagstätigkeiten. Eine Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Empfehlungen wird weder auf sprachlicher Ebene noch in der Anordnung gemacht.

Medien

„Verbote“ beziehungsweise Beschränkungen für Medien beziehen sich hauptsächlich auf den Zugang zu Medien und auf die Medienzeit. Von einer kompletten Medienabstinenz in der frühen Kindheit zu keine Medien im Kinderzimmer in Kindheit und Jugend bis hin zu medienfreien Tagen und Zeiten für die ganze Familie.

Es wird empfohlen sogenannte Medienvereinbarungen zu treffen und Schutzmaßnahmen wie die Beschränkung der erreichbaren Internetseiten umzusetzen. Für die konkrete Umsetzung gibt es Verweise auf Internetportale zu diesen Themen. Im Medienkompass selber wird weder beschrieben wie eine Medienvereinbarung aussehen oder gemeinsam erarbeitet werden könne, noch wie konkret die Schutzmaßnahmen umgesetzt werden können.

Konkrete Tipps zur Mediennutzung sind für alle Altersstufen eher spärlich gesät.

Alltag

Deutlich mehr Tipps gibt es für den Alltag jenseits der Medien. Bei all diesen Empfehlungen wird sehr deutlich, wie das anthroposophische Ideal der Alltagsgestaltung aussieht. Es geht einerseits um Alternativen zur Medienzeit und andererseits um Aktivitäten, die die Entwicklung (im anthroposophischen Sinne) der Kinder unterstützen sollen. Von backen, kochen und putzen über basteln, malen und Geschichten erzählen bis hin zum gemeinsamen Wandern, Sport und Freund*innen besuchen ist einiges an Ideen dabei. In der anthroposophischen Logik zählt all das zur indirekten Medienpädagogik und ist daher Teil einer Broschüre, die „eine Orientierung für Eltern im Medien-Dschungel“ genannt wird.

Wie hilfreich sind die Tipps?

Im Endeffekt müssen Eltern und andere Betreuungspersonen das für sich selbst entscheiden. Was ich an dieser Stelle jedoch benennen möchte: Eine 54-seitige Broschüre als Orientierungshilfe im Umgang mit Medien sollte aus meiner Sicht nicht auf weitere Informationsquellen verweisen, sobald es um den konkreten Umgang mit Medien geht. Wenn ich Eltern beim Thema Medien zuhöre werden mir drei Dinge klar:

  1. es fehlt teils das ganz konkrete Wissen bezüglich der Programme und technischen Lösungen zum Schutz der Kinder
  2. ihnen ist es wichtig, ihre Kinder gut zu unterstützen, zu fördern und vor Gefahren zu schützen
  3. neben all den Anforderungen im Alltag mit Kindern und den strukturellen Problemen ist die verfügbare Zeit begrenzt

Wie hilfreich ist da eine sehr umfangreiche und dabei nicht besonders übersichtlich gestaltete Broschüre welche zum einen viele Ängste schürt und zum anderen bei der konkreten Umsetzung auf weitere Quellen verweist?

5 Gedanken zum ersten Teil

Im Medienkompass geht es nicht nur um Medien. Es geht vor allem um Anthroposophie. Ohne Kenntnisse diesbezüglich sind die Ideen und Konzepte jedoch kaum erkennbar. Im bisher hier beschriebenen ist das mein größter Kritikpunkt. Denn die Tipps und Empfehlungen basieren auf anthroposophischen Ideen. Wenn der Ursprung jedoch verschleiert wird, erschwert es eine informierte Einordnung und Entscheidung enorm.

Im Zweiten Teil zum Medienkompass geht es um Empfehlungen zum Medienkonsum, Zuschreibungen, Angstmache und Kontrolle. Zudem findet ihr dort mein abschließendes Fazit zum gesamten Medienkompass.

Quellen
  1. Rudolf Steiner GA 227, S. 258 ↩︎
  2. Rudolf Steiner GA 175, S. 90ff ↩︎
  3. https://www.waldorfschule.de/paedagogik/medienkompass ↩︎
  4. https://www.erziehungskunst.de/artikel/social-media-unplugged-handlungsorientierte-praevention-von-cyber-risiken ↩︎

Robin Bartels

Robin Bartels, Ende 30, Exwaldi aka negativ von der Anthroposophie betroffen. Schreibt hier über die verschiedenen Themen im Kontext Anthroposophie und über deren eigene Erfahrungen. Auf der Seite "Über mich" gibt es mehr Infos zu Robin.

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