In der Dezember 2024 Aufgabe der Erziehungskunst wird unter dem Titel „Wegkommen von der One-Man-Science“1 über ein Gespräch mit dem Vorstandsmitglied Hans Hutzel berichtet. Es geht um die Bedeutung von Rudolf Steiner für die Waldorfpädagogik, ob an Waldorfschulen Anthroposophie unterrichtet und Forschungen jenseits der Anthroposophie berücksichtigt werden sollten. Der Artikel suggeriert eine Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung die bei näherem Hinsehen jedoch nicht wirklich vorhanden zu sein scheint.
Die Erziehungskunst ist das Magazin vom Bund der Freien Waldorfschulen. Hans Hutzel ist nicht nur Vorstandsmitglied vom BdFWS sondern auch in verschiedenen anderen anthroposophischen Einrichtungen und Unternehmen involviert (gewesen). Der Artikel ist sowohl Teil der Dezember 2024 Ausgabe der Erziehungskunst als auch online abrufbar. Im Artikel finden sich viele Aussagen, die auf den ersten Blick überraschend selbstkritisch und veränderungsbereit wirken. Einige dieser Aussagen sowie die darauffolgenden Einschränkungen oder sogar Relativierungen betrachte ich im Folgenden.
Sind Steiners Ideen noch aktuell?
Der einhundertste Todestag Rudolf Steiners wird im Artikel als Gelegenheit benannt, zu Gedenken und dankbar zu sein, sich aber auch bewusst zu machen, dass Steiner seit 100 Jahren tot ist. Was wie eine gewisse Distanzierung und Abkehr von Steiner und seinen Ideen klingen mag dient jedoch als Vorlage für die Aufforderung, die „Tradition lebendig zu halten“. Es wird darauf verwiesen, dass Steiner eine „Zeitgenossenschaft“ forderte und es an den heutigen Menschen (Hutzel spricht von „wir“ womit vermutlich Anthroposoph*innen gemeint sind) liege, diese Forderung zu erfüllen. Auch hier also mehr eine Besinnung auf Steiners Worte statt einer Distanzierung.
Im zweiten Teil des Artikels heißt es zu einem Steiner Zitat sogar: „Mit genau denselben Worten könnten wir auch die Situation der heutigen Menschen beschreiben.“. Es wird sich also wortwörtlich auf die Aussagen von Rudolf Steiner berufen.
Ein fehlbarer Rudolf Steiner
Steiners Aussagen werden von Anthroposoph*innen häufig als wahr dargestellt, da er sein Wissen angeblich hellgesehen habe. Daher ist es durchaus bemerkenswert, dass Steiner in diesem Text als fehlbar benannt wird. Auch dies wird jedoch direkt relativiert mit dem Hinweis, dass alle Menschen fehlbar seien und auch Steiner ein Recht auf Irrtum habe. Er müsse als historische Person betrachtet werden um seine Impulse für das heute fruchtbar zu machen. Seine Fehlbarkeit bezieht sich hier also offenbar nicht auf seine Ideen an sich, sondern nur auf die zeitgemäße Anwendung dieser Ideen.
Rudolf Steiner und Rassismus
Auch eine der nächsten Aussagen klingt erstmal bemerkenswert: „Steiners rassistische Aussagen, die definitiv als solche zu werten sind“. In dieser Klarheit hört und liest man es eher selten von Anthroposoph*innen. Die Relativierung folgt jedoch auch hier direkt in den nächsten Sätzen. Die rassistischen Aussagen würden nicht zur anthroposophischen Weltanschauung passen, welche „radikal universalistisch und radikal auf die Würde jedes einzelnen Menschen ausgerichtet“ sei. Es folgt der Hinweis, dass Steiner an einer Stelle den einzelnen Menschen „über den `Gattungsbegriff`“ gesetzt habe.
Ausserdem könne man Menschen niemals ohne Zugehörigkeit zur Gruppe betrachten. Und da Steiner nun mal „Zeitgenosse einer rassismusgeprägten Epoche“ gewesen sei, müsse hier ein „blinder Fleck“ vermutet werden. Es bleibt jedoch nicht dabei, dass Steiners rassistische Aussagen der damaligen Zeit geschuldet seien sollen. Ihm wird sogar zugesprochen, dass ihm die angeblichen Widersprüche zwischen dem anthroposophischen Menschenbild und den rassistischen Aussagen ohne diesen blinden Fleck „vermutlich selbst aufgefallen“ wären. Steiner wird hier also posthum ein Bewusstsein für Rassismus und eine nicht-rassistische Haltung zugeschrieben. Mehr Relativierung seiner rassistischen Aussagen (welche zu Beginn ja sogar als solche benannt wurden) ist wohl kaum möglich. Gleichzeitig wird mit der Argumentation als Fakt hingestellt, dass das anthroposophische Menschenbild nicht rassistisch sei. Von einem vermeintlichen Zugeständnis zu einer Relativierung der rassistischen Aussagen, einer Aufwertung Steiners und dem unangreifbar Machen des anthroposophischen Menschenbildes in nur sieben Sätzen.
Anthroposophie als Unterrichtsfach an Waldorfschulen?
Der nächste Absatz beinhaltet ein Narrativ, welches die Waldorfschulen gerne verbreiten: dass an Waldorfschulen keine Anthroposophie unterrichtet würde. Richtig ist: es gibt kein Unterrichtsfach Anthroposophie. Jedoch ist zum einen die gesamte Waldorfpädagogik, die Gestaltung von Klassenräumen, Aufbau und Reihenfolge der Unterrichtsinhalte und der Umgang mit den Schüler*innen aufgebaut auf und durchzogen von den anthroposophischen Ideen. Und zum anderen finden anthroposophische Ideen immer wieder einen Weg in die unterschiedlichsten Schulfächer. Dies wird in Epochenheften, Tafelbildern und auch öffentlich einsehbaren Empfehlungen für die Unterrichtsgestaltung an Waldorfschulen immer wieder sichtbar. Die Aussage im Artikel „Klar sei, die Anthroposophie selbst solle weiterhin in Waldorfschulen nicht gelehrt werden.“ ist also an sich schon fehlerhaft in ihrer Grundannahme, dass Anthroposophie nicht Teil des Unterrichts an Waldorfschulen sei.
Es klingt jedoch erstmal nach einer klaren Haltung, dass Anthroposophie nicht unterrichtet werden würde und das auch in Zukunft so sein solle. Die darauf folgenden Sätze machen jedoch deutlich, dass es sehr wohl Ziel sei, den Schüler*innen der Oberstufe anthroposophische Ideen näher zu bringen. Hutzel spricht nicht nur davon, dass die Schüler*innen aus seiner Sicht ein Recht darauf hätten zu erfahren, wer Rudolf Steiner war und welche Ideen er hatte. Er sagt: „Das wollen und müssen die Schüler:innen doch wissen“. Er suggeriert damit nicht nur, dass Schüler*innen das aus eigenem Antrieb heraus wissen wollen würden, sondern auch, dass sie es wissen müssten. Dargestellt als „ein Recht darauf“ haben, also als etwas Positives und Notwendiges.
Dass es letztendlich eben doch um eine Art Unterrichtsfach Anthroposophie geht wird im folgenden Satz deutlich: „wer über Steiner und seine Impulse für die Pädagogik spricht, kommt nicht umhin, sein Menschenbild zu skizzieren“.
Die Waldorfpädagogik ist Anthroposophie (Leitbild Waldorfschulen: „Didaktik und Methodik basieren auf der anthroposophischen Menschenkunde und Erziehungskunst.“2).
Steiners Impulse sind Anthroposophie.
Das Menschenbild nach Steiner ist Anthroposophie.
Wenn Waldorfschüler*innen die Person Rudolf Steiner und seine Ideen näher gebracht werden sollen, beinhaltet das also automatisch Anthroposophie.
Im Artikel heißt es, dass Steiner „in eine Reihe mit anderen pädagogisch wirksamen Persönlichkeiten“ gestellt werden solle. Und: „Starke Kontraste könnten dabei hilfreich sein“. Es soll also durchaus nicht nur um Steiner und seine Ideen gehen. Jedoch sollen alle anderen vorgestellten Personen offenbar nicht in erster Linie nach ihrer Bedeutsamkeit oder nach der Übereinstimmung ihrer Ideen mit dem heutigen Wissen über Pädagogik ausgewählt werden. Sondern vielmehr nach ihrer Abgrenzung und Unterscheidungen zur Anthroposophie. Es mag überspitzt sein, doch für mich klingt das nach „wie können wir die Anthroposophie möglichst wirkungsvoll und positiv darstellen“. Auch ohne meine Interpretation dessen ist es jedoch weit weg von der ursprünglichen Aussage „Klar sei, die Anthroposophie selbst solle weiterhin in Waldorfschulen nicht gelehrt werden.“.
Forschung und Impulse von außerhalb der Bubble?
Positiv überrascht hat mich zunächst auch, dass offen gesagt wird, die Anthroposophie habe sich in der Vergangenheit zu sehr gegen andere Disziplinen abgegrenzt und versucht sich gegen sie zu behaupten. Im Artikel heißt es sogar: „Und diejenigen Forschungen, die zu anderen Ergebnissen kamen, wurden schnell für irrelevant erklärt und ignoriert. Das halte ich für den falschen Weg“. Überrascht hat mich auch, dass Hutzel darüber spricht, wie in der Vergangenheit oft darauf gewartet wurde, dass die Waldorfansätze von außen belegt und bestärkt werden. Und, dass er dafür plädiert, „interessiert auf Studienergebnisse außerhalb der eigenen Bubble“ zu schauen.
Diese Selbstreflexion klingt erstmal positiv. Der Eindruck wird aber direkt wieder zunichte gemacht. Zumindest wenn man das Gesagte nachprüft. Denn als Beispiel für entsprechende Forschungsergebnisse wird die Art wie Kindern an Waldorfschulen Schreibschrift beigebracht wird genannt, welche „möglicherweise nicht die beste“ sei. Dazu wird auf Forschungen von einer Susanne Speckenbach zum Thema Schreiben und Lesen lernen verwiesen. Ich war neugierig, wie weit Speckenbach tatsächlich „außerhalb der Bubble“ ist. Stellt sich raus: sie ist mittendrin. Direkt das erste Suchergebnis ist von der anthroposophischen Freie Hochschule Stuttgart. Speckenbach ist dort Dozentin und hat eine Koordinationsstelle zur Forschung im Bereich Waldorfpädagogik. Vorher war sie Waldorflehrerin, hat Schriften von Rudolf Steiner neu herausgegeben, war Mitglied des Vorstands vom Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) – zeitgleich mit Hutzel – und hat mehrere Publikationen zur Waldorfpädagogik vorzuweisen. Speckenbach ist also mittendrin in der Anthroposophie- und Waldorf- Bubble. Hier wird eine Offenheit gegenüber aktuellen Forschungen jenseits der Anthroposophie suggeriert die so nicht ansatzweise vorhanden ist. Erkennen kann es jedoch nur, wer weitergehend recherchiert.
Den anschließenden Verweis darauf, dass es schon Rudolf Steiner wichtig gewesen sei, dass seine Ideen der Zeit angemessen weiterentwickelt werden verstehe ich daher eher als eine Aufforderung zu mehr anthroposophischer Forschung.
Fragen von heute – Antworten von gestern?
Hutzel sagt: „wir können Fragen von 2025 nicht mit Antworten von 1919 begegnen. Wir müssen selbst welche finden“. Also Fortschritt? Aktuelle Erkenntnisse nutzen? Die Anthroposophie weiterentwickeln oder sogar von ihr abrücken? Weit gefehlt. Die Lösung findet sich laut Hutzel in Steiners Aussagen in „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ von 1919. Der Artikel enthält ein Zitat aus dem Buch und laut Hutzel könne „mit genau den selben Worten“ die Situation der heutigen Menschen beschrieben werden. Das von ihm benannte und zitierte Buch ist DAS Grundlagenwerk zur Sozialen Dreigliederung – einer anthroposophischen Idee zur Gestaltung der Gesellschaft von Steiner. Also doch keine Antworten basierend auf aktuellen Erkenntnissen. Sondern eine 100 Jahre alte Idee, die plötzlich zu neuen Antworten führen soll. Die für die heutige Zeit notwendige Haltung sei laut Hutzel bereits in der Anthroposophie angelegt. Nur bisher noch nicht vollständig wirksam geworden. Was wohl so viel bedeutet wie: wir müssen einfach anthroposophischer werden, die Ideen von Steiner wirklich verstehen und umsetzen.
Die Ideen von vor 100 Jahren sollen jedoch nicht nur die Antworten für die heutigen Herausforderungen bringen. Diese Ideen, also die Soziale Dreigliederung und insbesondere die entsprechende Haltung, solle bei den Schüler*innen stark gemacht und weiter entwickelt werden. Also doch wieder Anthroposophie als Unterrichtsstoff an der Waldorfschule. Im Artikel wird nicht die Bezeichnung „Soziale Dreigliederung“ genutzt. Stattdessen ein Verweis auf das Buch von Steiner (also auf das Grundlagenwerk zur Sozialen Dreigliederung) und die Benennung der drei Bereiche der Sozialen Dreigliederung: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Ob es Zufall oder Absicht ist, dass der Begriff „Soziale Dreigliederung“ direkt nicht verwendet wird, kann ich nicht beurteilen. Auffällig ist es aus meiner Sicht auf jeden Fall. Die Soziale Dreigliederung wird von Kritiker*innen als nicht vereinbar mit modernen Demokratietheorien eingeordnet. Wenn der Begriff jedoch gar nicht genannt wird muss die Soziale Dreigliederung anhand der Beschreibung erkannt werden um diese Kritik überhaupt finden zu können.
Demokratiebildung
Hutzel verweist auf ein aktuell laufendes Projekt zur Demokratiebildung an Waldorfschulen. Dies müsse über Steiner hinausgehen mit dem Hinweis, dass Steiner politische Parteien nur anfänglich kennenlernen konnte und ein Skeptiker des Parteiensystems gewesen sei. Für die Demokratiebildung seien für Hutzel sogenannte Dilemma-Diskussionen das favorisierte Mittel. Diese seien „keine waldorfpädagogischen Erfindungen, aber sehr wichtig und wertvoll“. Wie das jedoch mit seinem Wunsch, der Haltung der Sozialen Dreigliederung mehr Raum im Unterricht zu geben, zusammenpassen soll, ist mir schleierhaft.
Anthroposophie vs. Waldorf
Zum Schluss möchte ich noch auf einen aus meiner Sicht wichtigen Abgrenzungsversuch aufmerksam machen. Im gesamten Artikel wird sprachlich immer wieder eine Unterscheidung zwischen Anthroposophie und Waldorfpädagogik gemacht. Ganz zu Beginn wird sogar vom „knifflige[n] Verhältnis von Waldorfpädagogik und Anthroposophie“ gesprochen. Später heißt es, dass das Verhältnis von Waldorfpädagogik und Anthroposophie differenzierter zu betrachten und behandeln sei. Was genau damit gemeint ist, wird nicht weiter benannt. Die Unterscheidung bleibt durch die Wiederholung jedoch im Kopf. Wie bereits weiter oben geschrieben steht im Leitbild der Waldorfschulen in Deutschland „Didaktik und Methodik basieren auf der anthroposophischen Menschenkunde und Erziehungskunst.“. Und auch im Artikel wird sich immer wieder auf Rudolf Steiner und die anthroposophischen Ideen berufen. Ob dies ein Versuch ist, die Waldorfpädagogik in der allgemeinen Wahrnehmung weiter von der immer mehr in der Kritik stehenden Anthroposophie zu separieren können an dieser Stelle nur Spekulationen meinerseits bleiben. Bemerkenswert ist es in dieser Deutlichkeit aus meiner Sicht in jedem Fall.
Fazit
Dieser Artikel ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel dafür, wie die Waldorfpädagogik nach außen dargestellt werden soll. Und wie dies nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmt. Es werden häufig benannte Kritikpunkte aufgegriffen und vermeintlich klar Stellung bezogen. Die Aussagen entkräften die Kritik auf den ersten Blick oder suggerieren eine selbstkritische Haltung und Auseinandersetzung mit den Themen. Die Aussagen eignen sich gut um durch Kritik auftauchende Zweifel zu entkräften und zu besänftigen. Gleichzeitig bekommen die eigenen, oft zu den anderen Aussagen widersprüchlichen, Anliegen viel Raum. Wie widersprüchlich es teilweise ist, wird erst deutlich, wenn man sich ein bisschen mit den anthroposophischen Ideen und Begriffen auskennt. Es braucht genaues und aufmerksames Lesen um die Unterschiede zwischen den vermeintlichen Zugeständnissen und Entkräftigungen auf der einen und den tatsächlichen Plänen und Umsetzung auf der anderen Seite zu erkennen.
Dieses Vorgehen ist ganz und gar nicht neu. Die Frechheit eine ganz klar anthroposophische Forschung als „außerhalb der Bubble“ zu präsentieren hat jedoch selbst mich überrascht. Ich kann nur allen empfehlen, bei Inhalten von anthroposophischen Akteuren genau hinzuschauen statt die Außendarstellung unhinterfragt zu glauben. Ich möchte zudem dazu ermutigen, die gemachten Angaben auf ihre Richtigkeit überprüfen.