Der Medienkompass vom Bund der Freien Waldorfschulen Teil 2

Teil 2: Empfehlungen, Zuschreibungen, Angst, Kontrolle, mein Fazit

0 Einleitung

Im ersten Teil meiner Kritik am Medienkompass bin ich auf die Medienkompass Broschüre vom Bund der Freien Waldorfschulen1 an sich und auf die dort vermittelten anthroposophischen Ideen und Ideale eingegangen. In diesem Artikel geht es jetzt vermehrt um das, was neben den anthroposophischen Inhalten auch an anthroposophischen Idealen, Rollenzuschreibungen und Vorstellungen zu Macht und Kontrolle im Medienkompass vermittelt und sichtbar wird.

Der erste Artikel bildet die Grundlage für alles jetzt folgende, Ich empfehle daher, diesen zuerst zu lesen.

1 Rollenzuschreibungen und sich Abheben

Geschlechterrollen

Positiv am Medienkompass sehe ich, dass hauptsächlich über Eltern und Kinder gesprochen wurde. Es findet sprachlich also zum größten Teil keine Geschlechtszuordnung statt. Dennoch wird teils die anthroposophische Vorstellung bezüglich der Aufgabenverteilung deutlich. Zum einen anhand der verwendeten Fotos. Es gibt hauptsächlich Fotos ohne erwachsene Personen – bis auf vier Fotos. Alle vier Fotos stellen eine Frau/Mutter mit Kindern dar. Es gibt kein einziges Foto eines Vaters. Besonders spannend: eines der Fotos befindet sich im Kapitel „Frühe Kindheit“ und eines als Titelbild des Kapitels „Eltern stärken“. In letzterem Kapitel geht es darum, wie Eltern das eigene Medienverhalten reflektieren, sich mit anderen Eltern vernetzen und Vereinbarungen mit den Kindern getroffen werden können. Ausgerechnet hier ist das Titelfoto eine Mutter mit zwei Kindern. Das gesamte Kapitel hat drei Fotos. Einmal eine Jugendgruppe und zweimal eine Mutter mit Kindern. Zufall?

Im Kapitel „Frühe Kindheit“ geht es um die ersten 6-7 Jahre, also die Zeit vor der Schule. Aus anderen anthroposophischen Publikationen geht deutlich hervor, dass die Idealvorstellung der Familie eine Mutter beinhaltet, die vorrangig zuhause und für die Kinder da ist. Dieses Bild wird mit der Fotoauswahl hier weiter gefestigt. Verstärkt wird dies von einem Textabschnitt desselben Kapitels, in dem an einziger Stelle im gesamten Medienkompass nicht von Eltern oder Mutter und Vater gesprochen wird, sondern nur von der Mutter. Und das auch noch im Kontext der Beziehung zum Kind.

„Eine mit dem Handy telefonierende oder chattende Mutter ist zwar leiblich bei ihrem Kind, aber seelisch ganz ‘woanders’. Die Beschäftigung mit dem Gerät schiebt sich als Keil zwischen Mutter und Kind. Ihre Beziehung ist für eine Weile weitgehend unterbrochen.“ (Seite 10)

Welches Signal wird hier an Mütter gesendet? Wer bekommt die Verantwortung für die kindliche Entwicklung, die Beziehungsgestaltung zum Kind und den Umgang mit Medien übergestülpt?

Väter werden übrigens an keiner Stelle einzeln erwähnt.

Aus meiner Sicht hat hier keine wirkliche Reflektion der zugeschriebenen Mutterrolle stattgefunden, sondern lediglich eine sprachliche Anpassung.

Adultismus

Adultismus ist nicht anthroposophie-spezifisch, sondern in unserer Gesellschaft tief verankert. In der Anthroposophie gibt es jedoch zusätzliche Ebenen, die zum allgemeinen Adultismus hinzukommen. Dies zeigt sich auch im Medienkompass.

Zum einen die für die Anthroposophie sehr typische Bezeichnung „das Kind“. Es wird bezüglich Entwicklung, Bedürfnisse, Wünsche und Aktivitäten meist von „das Kind“ gesprochen. Als gäbe es eine ideale Blaupause, in die sich jedes Kind nur einfügen müsse und dann ist alles gut und richtig. Es lässt keinerlei Raum für Individualität. Die Anthroposophie weiß, was gut für „das Kind“ ist. Wo ist die individuelle Persönlichkeit? Wo individuelle Wünsche, Interessen und Bedürfnisse? Für all das ist kein Raum. Der Blick von außen, der erwachsene, anthroposophische Blick von außen auf das Kind ist das Einzige was zählt.

„Das Kleinkind will für seine gesamte Biografie fundamentale Entwicklungsaufgaben bewältigen“ (Seite 6)

„Das Kind beginnt mehr und mehr, seinen seelischen Innenraum auszubilden.“ (Seite 15)

So entstehen dann Verallgemeinerungen. Die Anthroposophie weiß, was das Beste für ein Kind ist, ohne es jemals gesehen zu haben.

„Jedes Kind genießt es, wenn mit ihm gebastelt wird…“ (Seite 16)

„Fazit: Das Buch ist bis zur Pubertät das beste Medium im Leben des Kindes.“ (Seite 19)

Was ist mit Kindern, die keine Bücher mögen? Die keine Geschichten mögen? Die lieber etwas sehen statt es zu hören? Die ungerne selber lesen? In der Anthroposophie gilt dann oft: Hier muss etwas ausgeglichen werden, denn die Anthroposophie wisse ja schließlich, dass das Buch für jedes Kind das beste Medium sei.

Die Idee der Entwicklung in Jahrsiebten ist aus meiner Sicht per se adultistisch. Ganz besonders unangenehm deutlich wird das im Medienkompass am Beispiel Jugend. Dort heißt es: „Einer dritten Entwicklungsaufgabe des Jugendlichen liegt die menschliche Fähigkeit des Denkens zugrunde.“ (Seite 23) und: „Das Urteilsvermögen der Jugendlichen ist zunächst noch sehr an ihr Gefühlsleben gekoppelt und oft wenig von den tatsächlichen Gegebenheiten her bestimmt. Die ordnende Kraft der sachlichen Urteilsfähigkeit muss noch ausgebildet werden.“ (Seite 23f)

Ich möchte hier nicht leugnen, dass die Gehirne von Kindern und Jugendlichen sich noch in der Entwicklung befinden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir herablassend auf Kinder und Jugendliche blicken müssen. Kindern bis ca 14 wird hier im Medienkompass aus meiner Sicht einfach die Fähigkeit (richtig) zu denken abgesprochen. Wie sollen da ein Austausch und eine Beziehung auf Augenhöhe möglich sein?

Die Anerkennung, dass Jugendliche mit Technik, Internet und Programmen häufig deutlich besser umgehen können als ihre Eltern, macht diese Überheblichkeit auch nicht wett. Eher im Gegenteil, wenn dieses Wissen entweder als rein technisches Wissen angesehen wird, welches „genutzt“ werden kann oder zur Vermittlung der eigenen Ideale instrumentalisiert wird:

„Zwei 16-jährige Mädchen, welche die Aufgabe hatten, einmal aufzuschreiben, zu welchen Vorsichtsmaßnahmen sie 12-jährigen Kindern im Umgang mit dem Internet raten würden, schrieben am Ende ihrer (langen) Liste: ‚Du bist erst zwölf, eigentlich brauchst du noch gar kein Internet.‘ „ (Seite 31)

Sich abheben

Durch den gesamten Medienkompass zieht sich ein Flair von „Wir machen es besser!“.

  • Wir haben die überlegene Medienmündigkeit: „Das zeichnet die Medienmündigkeit gegenüber der bloßen Medienkompetenz aus: Nutzt man die Geräte für eigene bewusste Interessen – oder erliegt man ihren Versuchungen.“ (Seite 3)
  • Wir kennen die wirklichen Entwicklungsschritte der Kinder und richten unsere (gesunde) Medienpädagogik daran aus: „Eine gesunde Medienerziehung orientiert sich an diesen [den anthroposophischen, Anm. d. Verf.] Entwicklungsschritten.“ (Seite 5)
  • Die anderen verfallen der Euphorie und einem Modernitätsanspruch: „Die Euphorie über die grandiosen Möglichkeiten der Informationstechnologien trieb den Medienbegriff in die Einseitigkeit.“ und: „…aus einem vermeintlichen Modernitätsanspruch heraus –, macht man sie [die Kinder, Anm. d. Verf.] letztlich für die Gesamtheit der Medien inkompetent“ (beides Seite 19)
  • Wir haben noch ein echtes Leitbild auf dass sich Eltern verlassen können: „Vieles davon hat sich dauerhaft etabliert und ist auch von einer gewissen Fortschrittsaura umgeben.“ und: „Umso wertvoller und hilfreicher ist es da, wenn man auf die Wirksamkeit einer Institution setzen kann, die so etwas wie einen ‘Geist’, moderner gesagt, ein ‘Leitbild’ hat und dieses auch lebt. Dort gelten dann durchaus andere Regeln als außerhalb.“ (beides Seite 40)

Es braucht kein ausformuliertes „Wir sind besser als die anderen“ um diese Haltung deutlich zu machen. Wird der eigene Weg konsequent aufgewertet und der Weg der anderen konsequent abgewertet, wird diese Haltung auch so mehr als deutlich. Dieser Medienkompass richtet sich vorrangig an Eltern, die ihre Kinder bereits auf der Waldorfschule haben. Die also bereits Teil dieser „besseren“ Welt und Pädagogik sind. Quasi ein: „Wir sind besser und glücklicherweise bist du Teil davon“. Aus meiner Sicht dient diese Haltung zum einen der Autoritätserhaltung von Anthroposophie und Waldorfpädagogik. Und zum anderen erschwert es einen Ausstieg. Wenn alle anderen die Entwicklung der Kinder angeblich verkennen und Medien in für Kinder schädlicher Weise und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder verwenden, dann ist es viel schwerer, Kritik am anthroposophischen Weg zu äußern. Es macht es auch schwerer, auf nicht anthroposophische Quellen zu vertrauen und bei der Mediennutzung einen anderen, einen eigenen Weg einzuschlagen.

2 Erfahrungsberichte

Im Medienkompass gibt es acht Erfahrungsberichte, vier von Eltern, drei von jungen Erwachsenen und einen eines Lehrers. Zusammenfassen lassen sie sich als Bestätigung dessen, was im Medienkompass an Empfehlungen und Gefahren beschrieben wird.

Zu viele Medien führen zu negativen Auswirkungen:

„…hatten wir jeden Abend Geschrei, weil sie weiterschauen wollten.“ (Seite 10)

„Sie erzählten, dass sie beide sehr viel Zeit in dem Spiel verbracht hatten. Eigentlich seien sie spielsüchtig gewesen.“ (Seite 42)

Ohne oder mit weniger Medien ist alles besser:

„Mein Sohn ist mit dieser Regelung zufrieden und ich auch, denn er kann stundenlang alleine oder auch mit Kameraden fantasievoll spielen und hat so viel Zeit für seine eigenen Ideen.“ (Seite 13)

„Ich stellte fest, dass ich nichts vermisse und dass mein Leben deutlich entspannter ist, weil ich nur zu bestimmten Zeiten Nachrichten lese und nicht alle paar Minuten abgelenkt werde. Auch die Konzentration auf mein Studium klappt deutlich besser.“ (Seite 35)

Medien sind kein Ersatz für „reales“ Leben, können aber gegebenenfalls damit verknüpft werden:

„Die Faszination, die die Computersimulation auf Freunde ausübte, konnte aber nicht annähernd mit meinen realen Erfahrungen im Cockpit mithalten.“ (Seite 25)

Weniger oder keine Medien umzusetzen ist ganz leicht:

„Die Umstellung der Gewohnheit war gar nicht so schwer, wie wir dachten.“ (Seite 10)

„Die Jüngste, die gerade 2 Jahre alt geworden ist, schaut nicht mit. Wir sorgen dafür, dass sie während dieser Zeit in Ruhe spielen kann. Entweder ist meine Frau mit ihr zusammen und ich bei den Älteren oder umgekehrt […]“ (Seite 21)

„Ich stellte fest, dass ich nichts vermisse[…]“ und: „Das Angebot meiner Eltern, mir zum Geburtstag ein neues Smartphone zu schenken, lehnte ich ab und bin stattdessen stolzer Besitzer eines neuen Fahrrads.“ (beides Seite 35)

Wie im gesamten Medienkompass ist auch in den Erfahrungsberichten kaum Raum für Schwierigkeiten im Umgang mit Medien. Wenn alle Erfahrungsberichte aufzeigen wie gut, wichtig und leicht es ist, keine oder wenig Zeit mit Medien zu verbringen, vermittelt es allen struggelnden Eltern, dass es an ihnen liege. Diese Haltung wird aus meiner Sicht im gesamten Medienkompass bestärkt. Man müsse es nur genug wollen und eine klare Haltung haben, dann klappe es auch. Mit dieser Haltung wird die Waldorfschule jedoch nicht zum bestärkenden und unterstützenden Ansprechpartner im Themenfeld Medien. Ganz im Gegenteil werden so eher Scham und Selbstvorwürfe geschürt, wenn es in der Umsetzung eben doch nicht ganz so einfach klappt.

Die Erfahrungsberichte sind meiner Meinung nach daher kein für Eltern hilfreiches Element im Medienkompass. Sie haben vielmehr lediglich anekdotische Evidenz, welche die behaupteten und erwünschten anthroposophischen Ansichten untermauern sollen.

3 Angst, Macht, Kontrolle und Einheitlichkeit

Angstmache

Dies ist einer meiner größten Kritik Punkte am Medienkompass: Über alle Kapitel hinweg werden Ängste bezüglich vermeintlich gestörter Entwicklung der Kinder, potentieller Sucht, Cybergrooming, gesundheitlichen Schäden und Beeinflussung durch Medien geschürt und im Text wild durcheinandergewürfelt verteilt. Natürlich ist es wichtig, tatsächlich vorhandene Risiken und Gefahren zu benennen. Diese emotionalisiert immer wieder einzustreuen führt jedoch nicht zu einer hilfreichen Informiertheit der Eltern, sondern eher zu Ängsten und Überforderung. Auf einige Punkte diesbezüglich möchte ich exemplarisch eingehen.

Wirkung von Medien

Im Kapitel Jugendzeit gibt es den Abschnitt „Elektronische Medien: Gefährdungen und Chancen“. Die Unterüberschriften sind dann jedoch „Gefährdungen“ und „Chancen durch aktive Medienarbeit“. Das fasst die im Medienkompass vermittelte Sicht auf Medien recht gut zusammen: Medien bergen Gefahren und nur die richtige – sprich anthroposophische – Medienpädagogik bringt die Chancen mit sich.

„Sie [die gesunde Medienerziehung, Anm. d. Verf.] unterstützt die [anthroposophischen, Anm. d. Verf.] Entwicklungsaufgaben des Kindes, indem sie ausgleichende Gewichte zu schädlichen Medienwirkungen anbietet, und sie hilft dem Kind, die Basis zu legen, von der aus es später kompetent und sinnvoll mit allen Medien umgehen kann.“ (Seite 5)

Medien beeinflussen angeblich negativ die Entwicklung von Sprache und Bewegung (Seite 11), die Feinmotorik der Hände (Seite 11), die gesunde Reifung des Gehirns (Seite 7) und die gesunde Entwicklung des kindlichen Gehirns (Seite 10). Bildschirmmedien würden die Phantasietätigkeit praktisch ausschalten und die Sinne übermäßig beanspruchen (Seite 10). Medien würden einen Keil zwischen Mutter und Kind treiben (Seite 10), virtuelle Spiele die realen Spiele verdrängen (Seite 11) und die “tausenden Stunden” Medienzeit keine Zeit mehr für wichtige soziale Erfahrungen lassen (Seite 8). Auch über Computer hat der Medienkompass eher nichts Gutes zu sagen:

“ Wenn man die Kinder zu früh auf den Umgang mit dem Computer spezialisiert […] macht man sie letztlich für die Gesamtheit der Medien inkompetent.“ (Seite 19)

Die Lösung?

„Die spätere Medienmündigkeit des Jugendlichen wurzelt in einer frühkindlichen Medienabstinenz.“ (Seite 12)

Und das ist nur ein Ausschnitt der angeblichen Gefahren für die kindliche Entwicklung.

Dass das Internet potenzielle Gefahren wie Cybergrooming, politische Beeinflussung und ungeeigneter Inhalte birgt, wird mehrfach erwähnt und möchte ich nicht leugnen. Für den Umgang damit wird jedoch wieder einmal maximal auf externe Quellen verwiesen. Häufiger dienen sie nach meinem Eindruck jedoch eher zur Unterstreichung der Wichtigkeit von anthroposophischen Vorstellungen im Umgang mit Medien. Denn Formulierungen wie „Die Risiken und Gefahren, die im Internet lauern…“ (Seite 28) und: „…wie ein Jugendkoordinator der Polizei einmal sagte ‚auch allen Schmutz dieser Welt‘ “ (Seite 31) dienen nicht der sachlichen Information der Eltern. Sie schüren Ängste und können für Überforderung sorgen. Wenn direkt darauf Tipps zur Reduzierung der Mediennutzung folgen, dient das meiner Meinung nach nicht einer durchdachten Mediennutzung, sondern führt zu Entscheidungen aufgrund von Ängsten und Ohnmachtsgefühlen. Und wem genau soll das helfen? Wohl eher weniger den Eltern. Und erst recht nicht den Kindern.

Auf die potentiellen Gefahren im sogenannten „realen“ Leben wird übrigens nirgends hingewiesen. Und das, obwohl viele der Empfehlungen auf Aktivitäten jenseits von Internet und Technik hinauslaufen. Hier wird also sehr einseitig „das Internet“ als gefährlich im Gegensatz zum „realen“ Leben dargestellt.

Mobilfunk

Im Kapitel Mobilfunk wird auf angebliche Gefahren durch sogenannte Mikrowellenstrahlung hingewiesen. Was dort nicht erwähnt wird, ist, dass die Studienlage offenbar nicht so klar und eindeutig ist wie im Medienkompass dargestellt.

Überraschenderweise handelt das Kapitel mit dem Titel „Mobilfunk“ nur zur Hälfte vom Mobilfunk an sich. Im zweiten Teil geht es um die angeblichen negativen Veränderungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Für die Behauptung: „Die Hinwendung zu einer Stimme aus dem Apparat hat tendenziell den Vorrang gewonnen gegenüber dem realen, im Hier und Jetzt anwesenden Mitmenschen. Die unüberlegte Nutzung der Mobilfunktechnologie beinhaltet das Risiko, dass man nicht bemerkt, wie die reale Kommunikation zu erodieren beginnt.“ (Seite 34f) werden dann auch keinerlei Belege angegeben. Das Schüren von Ängsten im Kontext Kommunikation und Beziehungen ist auch hier wieder Grundlage für Empfehlungen zur Reduktion der Medienzeit.

Sucht

Im Medienkompass wird an mehreren Stellen davon gesprochen, dass Medien einen „verführen“ würden und eine Versuchung seien. Auch hier werden wieder die indirekte Medienpädagogik und die „gesunde“ Entwicklung als Voraussetzung und Schutz gegen diese Versuchungen und potentielle Süchte angeführt. Wie genau Eltern eine tatsächlich vorliegende Sucht erkennen können, wird hingegen nicht benannt. So bleibt auch hier nur die geschürte Angst vor einer Sucht und das Einschränken und Kontrollieren der Mediennutzung als vermeintliche Lösung.

Macht und Kontrolle

Zwischen Eltern und Kindern genauso wie zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen besteht ein Machtgefälle. Das ist erstmal nicht anthroposophie-spezifisch, sondern gilt gesamtgesellschaftlich. Im Medienkompass gibt es jedoch einige Annahmen und Empfehlungen, die dieses Machtgefälle noch verstärken und ausnutzen.

Im Abschnitt Adultismus habe ich bereits auf die Problematik der Jahrsiebtlehre hingewiesen. Wenn Erwachsene mit dem Verständnis „Ich weiß wie du bist und was du brauchst“ auf Kinder und Jugendliche blicken, dann wird das bereits vorhandene Machtgefälle enorm verstärkt. Denn so wird noch stärker kontrolliert, wo überhaupt erst ein Zugang gewährt wird. Die Empfehlungen im Medienkompass verstärken dies noch und führen zudem zu einer verstärkten Kontrolle dessen, was die Kinder innerhalb dieser begrenzten Möglichkeiten tatsächlich machen. Wenn dann noch der Ort der Mediennutzung in den Kontrollbereich der Eltern verschoben wird, verstärkt sich diese Dynamik zusätzlich.

„Keinen eigenen Computer im Kinderzimmer. PC oder Tablet an ‚öffentlichen‘ Orten nutzen: Beispielsweise im Wohnzimmer oder elterlichen Arbeitszimmer, sodass man jederzeit sehen kann, was das Kind am PC macht.“ (Seite 31, Kapitel zur Jugendzeit, Alter 13-18)

Ich kann im gesamten Medienkompass keinerlei Bewusstsein für das vorhandene Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen erkennen. Und erst recht nicht für die Auswirkungen der Empfehlungen auf dieses bestehende Machtgefälle.

Einheitlichkeit als Machtinstrument

Es findet nicht nur keine kritische Betrachtung der Machtverhältnisse statt, es wird sogar propagiert, dieses durch eine gewisse Einheitlichkeit (meine Formulierung) zu verstärken. Als Exwaldi, also als negativ von Anthroposophie betroffene Person, waren diese Äußerungen mit am schwersten zu ertragen. Warum ich Kritik am Medienkompass äußere? Unter anderem wegen solcher Inhalte.

„Das Ideal ist, dass ein Konsens der gemeinsamen Handhabung bei den Eltern einer Klasse und Schule erreicht wird. In der Regel wird es allerdings nur bei einem Teil der Elternschaft zu einer gemeinsamen Haltung kommen. Damit ist aber auch schon etwas erreicht, denn so kann kein Kind sagen: ‚Alle anderen haben aber …’“ (Seite 27)

Und:

„Die eigenen Bemühungen werden enorm unterstützt, wenn man sich mit anderen Eltern zusammentut und gemeinsame Regeln verabrede […]. Dem Argument der Kinder ‚Alle anderen dürfen aber!‘ wird damit der Boden entzogen.“ (Seite 39)

Es wird sowohl im Begleitbrief für Lehrkräfte als auch im Medienkompass selbst empfohlen, ihn gemeinsam an Elternabenden durchzuarbeiten. So sollen Vereinbarungen getroffen werden, die von der Schule und den Eltern gleichermaßen umgesetzt werden. Denn:

„Diese Regeln und die daraus entstehenden Gewohnheiten besitzen eine Wirksamkeit, die ein einzelnes Elternpaar oder ein:e einzelne:r Klassenlehrer:in nie erreichen könnte.“ (Seite 40f)

Hier wird nicht nur das vorhandene Machtgefälle verstärkt. Es wird zudem eine gleiche Linie auf Basis der anthroposophischen Ideen forciert. Individualität anhand der Bedürfnisse innerhalb einer Familie? Fehlanzeige.

Neben der Einheitlichkeit zwischen den Eltern und der Einheitlichkeit zwischen Schule und Eltern gibt es noch eine dritte Ebene der Einheitlichkeit: zwischen den Waldorfschulen. Auf Seite 42 wird empfohlen, dass innerhalb der Schule ein „in sich stimmiges und entwicklungsfähiges Medienkonzept“ vorhanden sein soll. Denn:

„Ein sinnvolles Medienkonzept überzeugt auch kritische Eltern, die Medienabstinenz in den unteren Klassen mitzutragen.“ (Seite 42)

Es wird daraufhin gewiesen, dass die Entwicklung eines solchen Medienkonzeptes anspruchsvoll und aufwendig sei. Zufällig gibt es am Tessin-Lehrstuhl für Medienpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart (eine anthroposophische Hochschule) die genau dafür passende Beratung und Unterstützung. Unter Angabe der entsprechenden E-Mail-Adresse wird direkt im Anschluss darauf hingewiesen. Der Einheitlichkeit der Medienpädagogik aller Waldorfschulen in Deutschland steht somit nichts mehr im Wege.

4 Weitere Gedanken zu meiner Kritik am Medienkompass

Worüber ich in diesem Artikel nicht geschrieben habe

Ob die Annahmen, welche den Empfehlungen zugrunde liegen, wirklich korrekt sind und dem aktuellen Forschungsstand entsprechen, darauf bin ich hier nicht eingegangen. Dieser Artikel kann somit keine Aussagen über die Richtigkeit der behaupteten Vorstellungen bezüglich der kindlichen Entwicklung und über den derzeitigen wissenschaftlichen Konsens diesbezüglich geben.

Auch auf die verwendeten Quellen, insbesondere die angegebenen Studien, bin ich nicht näher eingegangen. An dieser Stelle möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass lediglich Studien und andere Quellen angegeben wurden, welche die aufgestellten Behauptungen stützen. Die erst im vergangenen Jahr veröffentlichte Oxford Studie zu Auswirkungen von Bildschirmmedien auf die kindliche Entwicklung2 findet beispielsweise keinerlei Erwähnung. Es ist insgesamt eine sehr einseitige Auswahl an Studien und anderen Quellen. Die verwendeten Zahlen werden zudem teils wild durcheinandergewürfelt. Eine gewissenhafte Verwendung von Quellen geht anders!

Wofür ist das anthroposophische Medienverständnis die Grundlage?

Zwei Dinge finde ich im Kontext des Medienkompasses und der generellen anthroposophischen Medienpädagogik bedenklich und beide laufen auf folgendes hinaus: die hier beschriebenen Ansichten und Mechanismen stehen nicht isoliert da. Sie sind, ganz im Gegenteil, die Basis für eine Verbreitung der anthroposophischen Ansichten.

Zum einen, wie bereits benannt, in Richtung der Eltern. Sowohl konkret in der Waldorfschule mittels Verbreitung als Klassensatz bei Elternabenden, als auch über die Waldorfschulen hinaus durch die Verschleierung der anthroposophischen Inhalte und der Darstellung als allgemeingültige Medienpädagogik.

Zum anderen werden diese Ansichten in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Auch hier nicht als klar anthroposophisch erkennbar. So beispielsweise durch die Kampagne „Bildschirmfrei bis 3“, welche als Poster mittlerweile in einem großen Teil der kinderärztlichen Praxen aushängt und als Sticker in den U-Heften verbreitet wird. Und durch die in 2023 veröffentlichte offizielle S2K-Leitlinie zur Mediennutzung von Kindern. Die Leitlinienkoordinator*innen sind an der anthroposophischen Universität Witten/ Herdecke tätig und ebenfalls die Initiator*innen der Kampagne „Bildschirmfrei bis 3“. Dass beides anthroposophisch ist, wird weder bei der Kampagne noch bei der Leitlinie erwähnt.

Die anthroposophischen Ansichten zur Mediennutzung bei Kindern und zur kindlichen Entwicklung werden also nicht nur innerhalb anthroposophischer Kontexte, sondern gesamtgesellschaftlich verbreitet und etabliert. Das ist aus meiner Sicht ein gravierendes Problem.

5 Mein Fazit

Aus meiner Sicht ist der Medienkompass vom Bund der Freien Waldorfschulen weder inhaltlich noch vom Aufbau oder den Empfehlungen her eine sinnvolle Broschüre für Eltern. Auf dem Titelblatt steht, dass er „eine Orientierungshilfe für Eltern im Medien-Dschungel“ sein solle. Ein Broschüre die hauptsächlich Ängste im Kontext Medien schürt, keine klare inhaltliche Struktur hat, nicht alle Quellen im Quellenverzeichnis angibt, die Quellen nicht nummeriert und Links in einer PDF-Datei nicht anklickbar macht, ist weder hilfreich noch zeitgemäß und erst recht keine Orientierungshilfe. Und das sogar ganz abgesehen vom eigentlichen – aus meiner Sicht absolut problematischen – Inhalt.

Die Auseinandersetzung mit dem Medienkompass war für mich sehr herausfordernd und anstrengend. Denn all das dort Beschriebene kenne ich aus meiner Kindheit und Jugend. Die Medienabstinenz ebenso, wie die übermächtige, geschlossene Wand an erwachsenen Personen in meinem Leben, deren identische anthroposophische Ansichten um ein Vielfaches mehr zählten als meine eigenen Bedürfnisse. Das als aktuelle Empfehlungen für Eltern zu lesen war hart. Es sind eben nicht bloß theoretische Ideen, die wenig mit der Praxis zu tun haben. Für viele Kinder war und ist das Realität.

Mein Wunsch ist, dass anthroposophische Ideen auch im Kontext Medien weniger relevant werden. Dass die Verbreitung, ob innerhalb der Waldorfwelt oder darüber hinaus, nicht so unkritisch hingenommen wird. Ich wünsche mir, dass hinterfragt wird, was da eigentlich steht und welche Ansichten dahinter stecken. Ich wünsche mir, dass diese Ansichten nicht als „ein bisschen merkwürdig“ abgetan werden, sondern ernst genommen werden. Denn wie wir anhand der Kampagne „Bildschirmfrei bis 3“, der S2K-Leitlinie und der Beteiligung am Bildungsdialog für Deutschland erkennen können: die Anthroposoph*innen meinen es verdammt Ernst.

Und jetzt freue ich mich über deine Gedanken in den Kommentaren. Zum Medienkompass. Zu meinen Kritikpunkten. Und auch, was du von einer Medienbroschüre für Eltern eigentlich erwarten würdest.

  1. https://www.waldorfschule.de/paedagogik/medienkompass ↩︎
  2. https://www.oii.ox.ac.uk/news-events/no-evidence-screen-time-is-negative-for-childrens-cognitive-development-and-well-being-oxford-study/ ↩︎

Robin Bartels

Robin Bartels, Ende 30, Exwaldi aka negativ von der Anthroposophie betroffen. Schreibt hier über die verschiedenen Themen im Kontext Anthroposophie und über deren eigene Erfahrungen. Auf der Seite "Über mich" gibt es mehr Infos zu Robin.

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